Wir Ertrunkenen
Wir gingen in den leeren, eiskalten Klassenraum. Niemand sagte etwas, wir waren still. Es war so eigenartig. Wir empfanden keine Erleichterung, konnten uns eine Welt ohne Isager nicht vorstellen. War er tot?
Der Hilfslehrer Nothkier kam herein und erklärte, unser Lehrer sei krank. Es hieß, wir sollten nach Hause gehen und am nächsten Tag wiederkommen.
Am nächsten Tag war das Klassenzimmer leer, aber nun war der Kachelofen angefeuert. Wieder tauchte Nothkier auf, um uns mitzuteilen, dass Isagers Krankheit länger dauern und er in der Zwischenzeit den Unterricht übernehmen werde, allerdings mit einer verminderten Stundenzahl, da er auch nach den Mädchen zu sehen habe.
Nothkier war als Lehrer nicht viel besser als Isager. Auch er hielt sich an Balles Lehrbuch, von dem wir nichts verstanden, und an Cramers Rechenbuch, von dem er selbst nichts verstand. Aber er schlug uns nicht. Hin und wieder fragte er, ob wir begriffen hätten, was er gerade erklärt hatte. Erleichtert verneinten wir. Er wurde nicht böse, nannte uns nicht «Esel» oder teilte Dukaten aus. Stattdessen begann er von vorn.
Der Schnee blieb liegen, aber wir verstopften weder den Kachelofen, noch schütteten wir Sand in die Tintenfässer. Nur wenige von uns schwänzten. Als wollten wir Nothkier belohnen.
Isager hätte eine Lungenentzündung, hieß es, doch überall in den Wohnungen redeten unsere Eltern darüber, dass er sich im Sturm verirrt habe.
«Bestimmt war er sturzbesoffen», sagten die Männer. Und die Frauen bedeuteten ihnen, ruhig zu sein.
Wir Kinder wussten alle, was passiert war, auch diejenigen unter uns, die nicht dabei gewesen waren. Doch wir redeten nicht darüber, auch nicht untereinander. Wir waren froh, solange sich Isager nicht in der Schule zeigte. An den Tod, den wir ihm zugedacht hatten, verschwendeten wir nicht viele Gedanken. Er war aus den Augen und daher auch aus dem Sinn. Hätte uns jemand gefragt, ob wir uns wirklich seinen Tod wünschten, hätten wir bestimmt geantwortet, es wäre uns egal, solange wir seinen Anblick nicht ertragen mussten.
Es wurde Weihnachten, und es gab Weihnachtsferien. Es kam der Silvestertag. Isager lag noch immer im Bett. Wir ersparten ihm den Unfug, mit dem wir ihn sonst jedes Jahr als Dank für das vergangene Jahr zu Silvester behelligten. Wir rissen nicht den Lattenzaun um seinen Garten nieder. Wir warfen nicht alle vierzig Fenster der Schule ein, und wir schmissen auch unseren Neujahrsgruß nicht durch sein Fenster: einen Tontopf, den wir schon Tage vorher mit Asche und übel riechendem Mist gefüllt hatten.
Nach Neujahr kam Isager zurück, und alles wurde wieder so wie früher.
Seine Haut war weiß wie der Schnee vor der Tür. Sogar seine Nase hatte ihre Farbe verloren. Aber er trug wie immer, wenn er schlechte Laune hatte, seinen schwarzen Leibrock, und die Brille saß fest an der Nasenwurzel. In seiner rechten Hand schwang er den Tampen hin und her, wie eine Kreuzotter, die aus ihrem Winterschlaf erwacht und nun bereit ist zuzustoßen. Wir starrten ihn an, als wäre er von den Toten auferstanden. In unserer Phantasie hatten wir ihn bereits im Grab liegen sehen.
Wir sangen Vergangen ist die dunkle Nacht, wie wir es immer getan hatten, doch wir spürten, dass die eigentliche Botschaft des Psalms im Gegenteil seines Textes bestand: Die dunkle Nacht war zurückgekehrt, und es gab einen Wiedergänger unter uns.
Als wir das Lied beendet hatten, ging er direkt zum kleinen Anders und zog ihn am Ohr. Er musste gar nicht mehr tun. Anders kniete gehorsam zwischen den Beinen des Lehrers, und Isager hob den Tampen zum Schlag.
«Die Sünde ist eine Krankheit des Geistes. Daher weckt sie eine innere
Unruhe im Geiste», sagte er mit ruhiger Stimme, die uns unheimlich erschien, denn bereits in diesem Stadium seiner Abstrafungen hatte ihn gewöhnlich ein unkontrollierter Zorn gepackt.
«Diese Unruhe nennen wir Gewissen.» Er sah auf. «Versteht ihr?»
Es war ganz still in der Schulstube. Lediglich der Atem des Feuers im Kachelofen war zu hören. Wir nickten.
Isager verrichte sein Werk an Anders und wendete sich dem Nächsten zu. Auch Albert ging gehorsam zwischen den Beinen des Lehrers in die Knie.
«Die Tätigkeit des Gewissens besteht darin zu urteilen und zu bestrafen», sagte Isager und schlug mit dem Tampen, wobei er Albert am Hosenbund festhielt.
Albert zuckte zusammen. Der Schlag hatte unerwartet wehgetan. Sein Hinterteil, das im Lauf des Herbstes abgehärtet worden war,
Weitere Kostenlose Bücher