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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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steckte, das er geschickt auseinandergeschraubt hatte. Wie beabsichtigt, begann der Kachelofen zu qualmen, doch dabei blieb es nicht. Auch der Pullover schwelte und stand plötzlich in Flammen. Isager konnte das Feuer umgehend löschen. Wir indes vergaßen den Anblick der Flammen nicht, die einen Moment lang aus dem Ofenrohr loderten. Auch Isager war dabei still geworden.
    Wir konnten Isager ausräuchern. Konnten wir noch mehr tun?
    An den kalten Winterabenden machte Isager Besuche. Gern hielt er sich bei Kaufmann Christoffer Mathiesen auf, seinem eifrigsten Unterstützer in der Schulkommission. Auch einige andere Bürger saßen dort um den Mahagonitisch, allerdings nicht Pastor Zachariassen. Der Pastor hatte zu Isager kein sonderlich gutes Verhältnis, er war beschämt über den miserablen Unterricht des Lehrers. Mathiesen hingegen fühlte sich geehrt, den gelehrten Mann bewirten zu dürfen, dem zwei zukünftige Könige auf die Schulter geklopft hatten.
    «Und wie der König zu mir sagte …»
    Das war Isagers häufigster Beitrag in der Runde. Er trug seinen Leibrock und hatte ein Glas doppelten Rumtoddy vor sich. Mit dem Bericht über sein Treffen mit den Königen Christian und Frederik zeigte er sich erkenntlich für den dampfenden Toddy, den er nie zum Munde führte, ohne ihn als «die beste Medizin gegen die Kälte, die unser Herrgott geschaffen hat» zu bezeichnen.
    Wenn der Toddy seine Wirkung tat, begann seine Unterlippe herunterzuhängen. Die Brille glitt in die Position, die Albert als «Schönwetter» beschrieben hatte. Er bekam jetzt einen Gesichtsausdruck, den wir in der Schule nie zu sehen kriegten, nicht leutselig, eher erschlafft.
    Als Isager an diesem Abend Mathiesens Haus in der Møllergade verließ, war er unsicher auf den Beinen. Es hatte den ganzen Abend geschneit, und der Schnee lag in Wehen an den Steintreppen und auf der
Straße. In unserer Stadt gab es keine Straßenlaternen, und unter dem wirbelnden Schnee verschwanden die Straßen im Dunkeln. Es herrschte Ostwind, er blies aus dem Hafen direkt in die Møllergade.
    Wir sahen sein Gesicht im Licht von Mathiesens Fenster. Der schlaffe Gesichtsausdruck wich einen Augenblick dem wütenden, den wir aus der Schule kannten, wenn eine seiner Strafexpeditionen anstand, und wir erwarteten, sein wütendes «Lümmel» zu hören, das er in den Schneesturm brüllte. Stattdessen ließ er die Unterlippe wieder hängen, und in seinen Blick kehrte die Stumpfheit zurück.
    So wurde er in dem Schneetreiben zu einem Schatten.
    Wir folgten ihm ein Stück, um sicherzugehen, dass er auf der Kirkestræde nach Hause lief. Er kam nur langsam voran, blieb in den Schneewehen stecken und ruderte mit den Armen. Dadurch hielt er sich wahrscheinlich warm, aber es half ihm nicht viel, um weiterzukommen.
    Dort hätten wir ihn schnappen können.
     
    Es waren nur die Ältesten unter uns in dieser Nacht unterwegs. Niels Peter war über die Bodentreppe aus der Hintertür geschlichen, Hans Jørgen hatte etwas von einem Besuch bei einem Kameraden gelogen. Sein Vater war in diesem Winter auf Langfahrt, und seine Mutter behandelte ihn wie einen Erwachsenen. Josef und Johan waren natürlich nicht dabei.
    Wir alle wussten, dass uns auf die eine oder andere Weise am kommenden Tag Ärger erwartete. Doch ein Schlag mehr oder weniger bedeutete für uns keinen Unterschied.
    Auch Lorentz bat darum, mitkommen zu dürfen. Er stand da und bettelte.
    «Och, lasst mich doch», sagte er.
    «Hoooo», erwiderten wir und machten Witze über sein Keuchen, wenn er keine Luft mehr bekam. «Wir müssen schnell laufen. Das schaffst du nicht.»
    Wenn er uns wirklich so widerlich gewesen wäre, hätten wir ihn mitgenommen. Er ahnte nicht, dass wir ihn an diesem Abend schonten.
     
    Wir warteten auf Isager an der Ecke Kirkestræde und Korsgade. Dann sahen wir ihn, einen Schatten, der langsam inmitten der Schneeflocken
größer wurde. Die Dunkelheit schützte uns, aber wir hatten uns dennoch Halstücher vors Gesicht gebunden, so dass nur die Augen zu sehen waren. Unser Atem fühlte sich heiß an hinter der Wolle. Wir waren selbst zu Schatten geworden, ein Wolfsrudel in der Schneenacht.
    Wir bombardierten ihn mit Schneebällen. Wir gingen dicht auf ihn zu und warfen hart und präzise. Noch war es nur ein Scherz. Eine Gruppe Jungen, die mit Schnee warfen.
    Ein Schneeball riss ihm den Hut vom Kopf. Er taumelte vornüber, um ihn aufzuheben. Da traf ihn ein Schneeball, hart wie Eis und lange gehätschelt von

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