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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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gebrochenen Rückgrat.
    Albert hockte sich neben ihn auf die Knie und streichelte ihm über den Kopf.
    «Na», sagte er in einem tröstenden Ton, und wir alle hätten ihn gern gestreichelt.
    Wenn er in diesem Augenblick doch nur noch einmal versucht hätte,
mit dem Stummelschwanz zu wedeln. Aber das tat er nicht, und das würde er auch nie wieder tun. Wir wussten es genau.
    Dann stand Hans Jørgen neben Albert.
    «Hör auf damit», sagte er und griff nach Alberts Arm, um ihn wegzuziehen.
    Albert kam auf die Beine, Hans Jørgen hielt ihn noch immer fest. Er war der Größte von uns und der Redlichste. Er war es, der mutig Einspruch erhob, wenn Isager mit dem Tampen in der Klasse umherging. Es waren immer die Kleinsten, die er verteidigte. Nun stand er mit hängenden Schultern da und war ebenso ratlos wie der Rest von uns.
    «Wir können Karo nicht hier liegen lassen», sagte Albert.
    «Es hilft aber auch nichts, ihn zu streicheln», entgegnete Hans Jørgen.
    «Können wir ihn nicht mit zurück zu Isager nehmen?»
    «Zu Isager? Bist du verrückt? Er schlägt uns tot.»
    «Ja und, was sollen wir tun?»
    Hans Jørgen ließ Albert los und hob unschlüssig die Arme. Dann begann er den Strand abzusuchen.
    «Helft mir, einen großen Stein zu finden», sagte er.
    Niemand von uns rührte sich. Anders weinte noch immer. Karo war ganz ruhig, als hätten ihn Hans Jørgens Worte nachdenklich gestimmt.
    «Hört mal», sagte Albert, «Karo fiept nicht mehr. Vielleicht geht’s ihm besser?»
    «Karo wird es nicht mehr besser gehen», sagte Hans Jørgen düster, und da begriffen wir, dass es keinen Ausweg gab.
    «Ihr könnt ja gehen, wenn ihr wollt», sagte er.
    Er hatte einen Stein gefunden und hielt ihn mit beiden Händen.
    Wir wären gern gegangen, aber wir konnten nicht. Wir konnten Hans Jørgen nicht verlassen. Als ob wir, jeder für sich, mit Isager allein gelassen würden, wenn wir es taten.
    Hans Jørgen kniete vor Karo. Karo sah so erwartungsvoll zu ihm auf, als glaubte er, Hans Jørgen wolle spielen.
    «Legt ihn auf die Seite», sagte Hans Jørgen.
    Niels Peter fasste den Hund unter seinen haarlosen rosa Bauch und legte ihn auf die Seite. Karo schrie. Er fiepte nicht. Er jaulte nicht. Er schrie. Wir alle waren entsetzt und schrien mit ihm, denn wir hielten
es für eine Sünde, dass er so dumm war und nichts von der Welt begriff.
     
    Als wir den Steilhang hinaufkletterten, hatte jeder von uns einen Stein in der Hand. Wir wussten nicht, warum. Wir gingen nach Hause. Wir sprachen kein Wort miteinander, während wir den Stein umklammerten.
    Lorentz kam uns keuchend entgegen. Er hatte am ersten Hügel aufgegeben und bemerkte unsere verschlossenen Gesichter.
    «Wo ist Karo?»
    «Halt’s Maul, du fettes Schwein.»
    Niels Peter trat auf ihn zu und boxte ihn in den Bauch. Lorentz setzte sich mitten auf den Weg, im Gesicht diesen flehenden Blick, den wir alle hassten. Es war egal, was wir mit ihm machten, er ließ sich alles gefallen.
    Wir begegneten zwei Jungen von den Höfen in Midtmarken. Sie stanken nach Kuhstall, und sofort begannen wir, sie zu verfolgen. Wir bewarfen sie mit Steinen, so dass sie heulend die Flucht zu ihren Misthaufen ergriffen. Uns war egal, was sie zu Hause erzählten.
    Unsere Stimmung hatte sich nicht gebessert. Es war, als hätte Isager ein weiteres Mal gewonnen.
    Unser Hass auf ihn wuchs.
     
    Am nächsten Tag waren wir sicher, dass Isager seine übliche Runde mit dem Tampen gehen würde. Die Brille hatte ihren Platz dicht an der Nasenwurzel. Er durchmaß die Schulstube mit diesen elastischen, federnden Schritten, die wir zu fürchten gelernt hatten. Auch der Tampen schien sein eigenes Leben zu haben. Wir spürten, wie er sich in seiner Hand drehte und wendete, bereit, beim ersten Opfer zuzuschlagen. Wir duckten uns bereits.
    Jetzt passierte es. Karo war nicht nach Hause zurückgekehrt. Es musste eine gewaltige Aufregung im Haus des Lehrers gegeben haben, und was immer Isager auch glauben mochte, ob wir nun mit dem Verschwinden des Hundes etwas zu tun hatten oder nicht, er würde es doch an uns auslassen, so wie er es bei allen Widrigkeiten seines Lebens tat.
    Isager ging auf und ab, wobei er sein «Lümmel, Lümmel» murmelte. Doch er befahl niemandem, auf dem Boden zu knien.

    Dann schlug er ohne Vorwarnung zu. Er ging auf Lorentz los, der an seinem Pult saß und gut zwei Plätze brauchte. Er griff ihn von hinten an, mit einem peitschenden Schlag über seinen breiten Rücken. Dann baute er sich rasch vor

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