Wir Ertrunkenen
dem Pult auf und schlug ihn erst auf die Brust, dann quer übers Gesicht. Vor Schmerzen und Schreck stieß Lorentz einen gellenden Schrei aus. Er schützte sein Gesicht mit seinen massigen Armen.
Isager versuchte, ihm die Arme herunterzureißen, um für den Tampen freie Bahn zu haben. Als das nicht gelang, zerrte er Lorentz auf den Boden. Er fiel mit einem lauten Klatschen aus der Bank, und Isager begann, ihn zu treten. Wir alle hatten schon einmal versucht, Lorentz zu verprügeln, sogar die Kleinsten. Es lag etwas gleichermaßen Einladendes wie Irritierendes in seiner Fettleibigkeit, eine weibliche Weichheit, die uns anzog und gleichzeitig rasend werden ließ. Es war etwas Kleinmädchenhaftes an ihm, ein Verrat an allem, wie ein Junge zu sein hatte. Es hieß, er habe keine Klicker, sein kleiner weißer Mehlwurm sitze einsam mitten zwischen den Fettmassen der Schenkel, und darunter hinge ein leerer Sack. Diese Geschichte machte ihn in unseren Augen zum geborenen Clown. Wir glaubten, das Fett beschütze ihn, und wenn er bei unseren Schlägen jammerte, dachten wir, er würde heulen, weil er ein Schlappschwanz war, nicht weil es wirklich wehtat. Wir schlugen dann umso härter, um so sein Geflenne zu beenden.
Lorentz schlug nie zurück. Er hatte so viel Angst vor unseren Bosheiten, dass er sich alles gefallen ließ, um nur nicht aus unserer Gruppe ausgeschlossen zu werden; und wir nahmen ihn hin, weil wir jemanden brauchten, den wir ungestraft verprügeln konnten. Vielleicht glaubte er, wir würden ihn ertragen. Aber das taten wir nicht. Für uns war er nichts anderes als die Worte, die wir benutzten, wenn wir ihn zu irgendetwas verführten: «Du fettes Schwein.»
Zusammenzuhalten war das Einzige, das Isager uns beigebracht hatte. Niemals hätte er uns dazu gebracht, bei einem Dummejungenstreich den Schuldigen zu verraten. Lieber nahmen wir selbst die Schuld auf uns, als dass wir jemand anderen verrieten. Isager wusste das. Daher hielt er uns alle für gleichermaßen schuldig und prügelte unterschiedslos hart auf uns ein.
Nun lag Lorentz wehrlos am Boden, und Isager trat ihn mit seinen Stiefeln.
Lorentz war der Unschuldigste von uns, und doch gab es niemanden, der seine Stimme erhob, um seine Unschuld herauszuschreien.
War es auch unser Zusammenhalt, der uns in diesem Augenblick den Mund halten ließ?
Dann hörten wir das wohlbekannte Schnaufen, das gewöhnlich all unsere Streifzüge begleitete, wenn wir anfingen, ein wenig schneller zu laufen, und der fette Lorentz zurückblieb. Lorentz bekam keine Luft mehr. Er kämpfte, um aufrecht sitzen zu können, und vergaß, sich zu schützen. Isager, der sich bisher damit begnügen musste, seine Stiefel als Waffe einzusetzen, wollte gerade den Tampen gegen das ungeschützte Gesicht und die beinahe weiblichen Fettmassen der Brust einsetzen, als ihn etwas zurückhielt. Lorentz ruderte mit den Armen in der Luft, als würde er sich gegen einen ganz anderen, unsichtbaren Feind verteidigen. Sein Gesicht war blau angelaufen. Die Augen traten aus den Höhlen. Er gurgelte und keuchte. Es sah aus, als würde er erwürgt.
Isager trat unschlüssig einen Schritt zurück. Dann steckte er den Tampen in die Gesäßtasche, als wäre nichts geschehen, und begab sich zum Katheder.
Lorentz hatte sich jetzt aufgesetzt. Seine Schultern hoben und senkten sich qualvoll im Kampf, Luft zu bekommen. Isager beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, unternahm aber nichts. Wir konnten ihm ansehen, dass er Angst hatte.
Lorentz saß den Rest der Stunde auf dem Boden. Langsam beruhigte sich sein schwerer Körper, und seine Atemzüge waren nicht mehr so deutlich zu hören. Er war vollkommen mit sich selbst beschäftigt. Seine Augen sahen niemanden. Als die Atmung zu einem ruhigeren Rhythmus fand, schaute er uns an, und wieder schien sein Blick zu fragen, ob er nun endlich einer von uns wäre.
Wir sahen weg. Niemand von uns wollte antworten.
Isager hatte dreißig Jahre lang unterrichtet. Vor ihm war ein anderer Lehrer, der Andrésen hieß, einundfünfzig Jahre im Amt gewesen. Doch an ihn konnten sich nur noch die Alten erinnern. Isager war zwei Königen
begegnet, zuerst Prinz Christian Frederik, dem späteren Christian VIII. Mit dem Schoner Delphinen hatte er an einem Kai im Hafen angelegt, das seither nur die Prinsebro genannt wurde. Dann war er die Markgade bis zur Kirkestræde hinaufspaziert, und daher hieß dieser Teil der Markgade später nur noch Prinsegade. Überall, wo Christian Frederik seine
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