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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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einer heißen und rachsüchtigen Jungenhand, an seinem Ohr, das in der strengen Kälte ohnehin schon gebrannt haben musste. Wir hätten ebenso gut einen Stein werfen können. Er griff sich an den Kopf.
    «Lümmel!», schrie er. «Ich kenne euch!»
    Er ging einen Schritt vorwärts. Ein Schneeball traf ihn mitten ins Gesicht und nahm ihm die Sicht. Dann bekam der Nacken einen Blattschuss. Er taumelte vor Schmerz und Trunkenheit.
    «Lümmel!», brüllte er wieder.
    Doch seine Stimme hatte ihre Kraft verloren. Geblieben war lediglich ein Jammern – und Angst.
    Genau das wollten wir. Nun war es kein Spaß mehr. Jetzt sollte er uns kennenlernen. Mit jedem Schritt, den er zurückwich, verschwand unsere Furcht. Wir schmeckten unsere wachsende Stärke und bekamen Appetit auf mehr. Außerhalb seiner Schulstube war er nichts, nur ein alter, besoffener Mann, allein in einem Wintersturm. Aber so sahen wir ihn nicht. Wir hatten Satan persönlich gefangen, die Ursache alles Bösen, das uns widerfuhr. Ihm konnten wir keine Gnade erweisen. Sonst würde die Angst nie aufhören. Hans Jørgen hatte Isager damals im Klassenzimmer auf die Knie gezwungen und seinen Arm auf den Rücken gedreht, doch selbst auf Knien hatte seine Macht weiterbestanden, und Hans Jørgen hatte ihn gehen lassen müssen.
    Diesmal sollte er nicht entkommen.
    Wir zogen uns einen Augenblick zurück. Er wischte sich den Schnee aus den Augen und entdeckte uns nirgendwo. Er glaubte sich gerettet, doch das war unser Plan. Er stapfte weiter durch die Schneewehen, seinen Hut zu suchen, hatte er aufgegeben. Und dann waren wir wieder da, mit neuen Bällen, härter und härter, eigentlich reinste Eisklumpen.
So nah bei ihm konnten wir unser Ziel gar nicht verfehlen. Es schien, als würden wir ihm Ohrfeigen verpassen, erst auf die eine Wange, dann auf die andere. Sein Kopf zuckte hin und her. Nun spürte er unsere Version des Tampens. Nicht einen Laut gaben wir von uns. Er hingegen grunzte und stöhnte. Gern hätten wir ihm jeden einzelnen Knochen seiner widerlichen Visage gebrochen.
    Wir hielten mit dem Beschuss inne, weil wir nicht wollten, dass er hier in der Kirkestræde stürzte, wo er gefunden werden konnte, bevor die Kälte unsere Arbeit vollendete.
    Wir ließen Isager bis zur Ecke der Nygade kommen, bevor wir ihn erneut umringten. Wir zwangen ihn, die Straße hinunterzuflüchten. Wir wollten ihn in das einsame Gebiet am Hafen treiben, wo nachts nie jemand hinkam. Er war schon fast in der Buegade, schwankend und strauchelnd. Hin und wieder fiel er kopfüber in eine Schneewehe. Dann warteten wir, bis er wieder auf die Beine kam.
    Er heulte.
    Es war ein schreckliches Geräusch, doch es weckte keinerlei Mitleid in uns. Der Schneesturm dämpfte die Lautstärke, und nur wir konnten das Greinen unseres Plagegeistes hören. Tränen liefen ihm über die Wangen und froren zu Eis. Schnee hing in seinem Backenbart und ließ ihn lang und fransig aussehen. Weinen und Gemurmel. Verfluchte er uns noch immer, oder bettelte er um sein Leben? Wir wussten es nicht, aber es war uns auch egal. Satan befand sich endlich in unserer Hand.
    Isager suchte Schutz an einer Hausmauer und stolperte über eine Treppenstufe vor einem der hochragenden Fachwerkhäuser ganz unten in der Nygade. Er fiel auf die vom Schnee halb verborgene Treppe und stützte sich auf die Hände. Hans Jørgen traf ihn mit einem knallharten Schuss auf die Nase. Es war dunkel, aber der Schnee leuchtete, und wir sahen Blut in den Schnee tropfen, erst einen kleinen Fleck, dann einen großen. Er wandte uns seinen Kopf zu und blökte vor Schreck. An einem baumelnden Faden hing ihm dickes Blut aus der Nase.
    Hans Jørgen feuerte noch einen Schuss auf ihn ab, traf aber daneben. Der Schneeball donnerte stattdessen gegen die Tür.
    Innen wurde Licht angezündet, dessen Schein hinter den Eisblumen auf dem zugefrorenen Fenster flackerte.
    «Ist da jemand?»

    Wir hörten ein Rumoren in der Diele und suchten das Weite. Durch die Buegade ging Kresten Hansen und schwang in dem Schneegestöber seine Laterne. Der glühende Docht warf einen flackernden Lichtschein über sein entstelltes Gesicht. Er war Nachtwächter geworden, schlief am Tag und ging nachts umher, damit uns der Anblick seines Gesichts erspart blieb. Er sah unheimlich aus. Und doch wich er uns aus, als wir an ihm vorbeistürmten. Er ließ die Lampe in eine Schneewehe fallen, und um uns herum wurde es dunkel.
     
    Am nächsten Tag empfing uns Isager nicht an der Schultür.

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