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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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aus wie ein Mann, der etwas verloren hatte. Hast du eine Idee, was es gewesen sein kann?»
    «Nein», antwortete ich, während mein Herz noch immer klopfte. «Ich war noch ein Kind, als er verschwand.»
    Ich ging aus der Tür und hörte Anthony Fox’ Stimme ein letztes Mal.
    «Du hast vergessen zu bezahlen!», rief er. «Du wirst im Buch eingetragen!»

    Ich war heilfroh, aus Hobart Town fortzukommen. Ich hatte mit meiner Schiffskiste als Kopfkissen geschlafen, obwohl es ein Schloss an meiner Zimmertür gab, und mehr als einmal hatte ich in der Dunkelheit um mich schlagen müssen, weil ich ungebetene Gäste bekam.
    Dann nahm ich Kurs auf Honolulu. Es dauerte ein Jahr, bis ich dort eintraf. Ich musste mehrmals an- und abmustern. Keine Route führte direkt von Hobart Town nach Hawaii. Unterwegs sah ich viele Dinge. Es gab mehr als einen Strand, an dem ich mich gern niedergelassen hätte. Wenn Anthony Fox recht hatte, als er sagte, es gebe zwei Sorten von Männern, die in den Stillen Ozean kämen, musste ich nun einsehen, dass ich zu der ersten Sorte gehörte, die nur einen Platz im Schatten einer Kokospalme und der Aussicht auf eine blaue Lagune suchten.
    Doch ich musste weiter. Ich hatte nur eins im Kopf, den Namen Jack Lewis.
     
    Vierzehn Tage musste ich in Honolulu warten, und wenn ich nicht auf der Jagd nach Jack Lewis gewesen wäre, hätte ich dort das Ende meiner Tage verbracht.

    Die Frauen flanierten mit nackten Schultern und roten Kleidern, die ihnen bis zu den Hacken reichten. Und sie wiegten sich auf eine Weise in den Hüften, die die Menschen in Marstal als unanständig bezeichnet hätten. Aber sie lebten unter einem anderen, fruchtbareren Diktat der Natur als dem, das wir hier bei uns kennen.
    Die Luft war erfüllt von Parfüm. Erst dachte ich, es seien die Damen, die meine Nasenlöcher reizen wollten, so wie sie auch meine übrigen Sinne reizten. Doch der Duft kam von den Blumen, die überall, vor den Häusern, im Schatten der Bäume und entlang der Wege, wuchsen. Jasmin und Oleander waren die einzigen Pflanzen, deren Namen ich kannte.
    Statt Gin gab es hier amerikanischen Brandy, und ich trank meinen Brandy vom Rauschen der Brandung begleitet auf einer schattigen Terrasse, während ich das Leben auf der Promenade vor mir beobachtete.
    Die Häuser der Stadt waren weiß und hatten grüne Fensterläden, die Wege waren gerade und breit. Statt auf Pflastersteinen lief ich auf einem Teppich zermahlener Korallen, im Schatten hoher Bäume, deren Blätter so dicht wuchsen, dass keinerlei Sonnenlicht hindurchfiel. Die Männer kleideten sich in den Farben der Stadt, weiße Jacken, Westen und Hosen. Sogar ihre Leinenschuhe waren weiß, sie kreideten sie jeden Morgen. Die Frauen trugen blumenverzierte Zigeunerhüte.
    Die Mikronesier, deren Haut hell ist, haben eine Vorliebe für Tätowierungen im Gesicht. Den größten Eindruck auf mich machten allerdings glatzköpfige Männer mit Tonsur, die sich vom Hals an aufwärts hatten tätowieren lassen, so dass ihre Gesichter ganz blau waren. Es sah aus, als ruhte statt eines Kopfes eine dunkle Wolke auf ihren Schultern. Tief in den blauen Schatten blitzte es. Es war das Weiße ihrer Augen, das jedes Mal aufleuchtete, wenn sie blinzelten oder in eine andere Richtung blickten.
     
    Dort lagen sie, an den beiden Enden des Pazifischen Ozeans, Hobart Town und Honolulu, und ich bin niemals in zwei Städten gewesen, die so verschieden waren. Über Jack Lewis hatte ich zuerst in Hobart Town gehört, und es schien, als brächte ich jedes Mal, wenn ich seinen Namen erwähnte, etwas vom Dreck dieser Stadt mit. Die Leute sahen mich auf eine unverschämte Weise von oben bis unten an und vermittelten mir das Gefühl, dass meine Gesellschaft unerwünscht sei.

    Einer spuckte auf den Boden und wandte mir dann den Rücken zu. Ich empfand es so, als würde sich ganz Honolulu von mir abwenden.
    Ein amerikanischer Missionar sah mich unter seinem breitkrempigen Strohhut teilnahmsvoll an und sagte dann in einem väterlichen Tonfall: «Du bist doch eigentlich ein ehrlicher junger Bursche. Was willst du denn bloß von diesem schrecklichen Mann?»
    Ich konnte ihm mein Anliegen nicht erklären und schwieg. Er missverstand mein Schweigen, vermutete, ich hätte etwas zu verbergen, und ging unter Kopfschütteln davon.
    Man hätte den Eindruck gewinnen können, ich sei unrein.
    Doch schließlich bekam ich die Informationen, die ich wollte. Jack Lewis wurde innerhalb der nächsten Wochen erwartet. Aber

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