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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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er frei, aber mit einem gebrochenen Willen und einem Rücken, der einem Waschbrett glich. Er war nicht der Einzige. Er erzählte seine Geschichte für ein Glas Gin, und er erzählte sie gern zehnmal am Tag. Er hatte vierzig Jahre Enthaltsamkeit nachzuholen. Aber wem sollte er sie erzählen? Hobart Town war voller Abschaum wie ihm, ehemalige Sträflinge, die für ein Glas einen Mord begehen würden.
    Die Stadt war eine Strafkolonie gewesen, seit das erste Haus gebaut wurde. Nun sagten sie, es sei eine Stadt freier Männer, doch alle waren entweder ehemalige Strafgefangene oder ehemalige Gefangenenwärter. Es lief auf dasselbe hinaus. Sie waren gewohnt zu schlagen oder geschlagen zu werden. Aber auf die dritte Möglichkeit – mit einem geraden Rücken zu leben – kamen sie nicht. Es gab nicht einen Mann, der mir direkt in die Augen sah. Ihr Blick war auf die Erde vor ihnen geheftet. Wenn sie schließlich aufschauten, dann nur, um die Größe deiner Taschen abzuschätzen und zu überlegen, ob deren Inhalt einen Mord wert
war. Man sagte über sie, dass sie bereit wären, einem Känguru sein Junges aus dem Beutel zu stehlen, ihr versteht doch? Kängurus tragen ihre Nachkommen in einem Beutel am Bauch.
    Es gab viele alte Männer und nur wenige junge. Jeder, der noch die Kraft dazu hatte oder auch nur einen Rest an Hoffnung, verschwand aus Hobart Town und ging woandershin. Kinder gab es auch, eine Unmenge dreckiger und unerzogener Kinder, aber keine Väter. Die Mütter wurden allerdings in Ruhe gelassen. Man sagt über Strafgefangene, dass sie im Lauf ihrer langen Gefangenschaft den Geschmack an Frauen verlieren und sich nur mit ihresgleichen abgeben. Ob das wahr ist, weiß ich nicht, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber eins weiß ich, ich habe meine Heuer an diesen Abschaum verschwendet.
    Ich fragte zuerst bei der Polizei und anderen Behörden; sie sagten alle das Gleiche: «Wenn ein Mann sich unsichtbar machen muss und spurlos von der Erdoberfläche verschwinden will, dann wählt er Hobart Town.»
    Aber mein papa tru hatte keinen Grund, das wusste ich. Sie schüttelten bloß den Kopf und erklärten, dass sie mir nicht helfen könnten.
    Dann lief ich auf der Liverpool Street herum. Jeder zweite Pub hieß «Bird-in-hand», ein Spatz in der Hand. Ich verstand es gut. In Hobart Town sangen die Tauben auf dem Dach lauter als alle anderen Vögel, und wenn man nichts anderes hat, an das man glauben kann, dann glaubt man daran, was sich mit den Händen greifen lässt.
    Ich gab allen einen Gin aus, die aussahen, als hätten sie eine Geschichte zu erzählen. Und das hatten sie alle. Sie erkundigten sich zunächst nach papa tru, nach seinem Aussehen, seiner Größe, der Nationalität. Ja sicher, an ihn erinnerten sie sich gut, und dann kratzten sie sich ihre dünnen, verlausten Haare, dass ihnen die toten Tiere auf die Schulter fielen. Mit einem betrübten Blick saßen sie vor ihren längst geleerten Gläsern und merkten sanftmütig an, dass ein weiteres Glas möglicherweise sehr hilfreich für ihr Erinnerungsvermögen sein könnte. Natürlich, nun erinnerten sie sich ganz deutlich an den großen Dänen mit dem dichten Bart und dem abwesenden Blick. Er ging immer ins «Hope and Anchor» in der Macquerie Street. Und dann hatte er sich anheuern lassen auf der …
    Der Name des Schiffs war ihnen entfallen. Sie schickten einen verliebten
Blick in Richtung Glas. Wenn es wieder gefüllt war, kam auch ein Name.
    Nach ein paar Wochen wusste ich, dass in Hobart Town wohl tausend Laurids Madsen gewesen waren. Mein papa tru hatte sich auf tausend Schiffen anheuern lassen und war zu tausend Zielen aufgebrochen. Ich bekam keinen Spatz in die Hand, sondern über tausend Tauben aufs Dach. Laurids Madsen war kein Mann. Er war eine ganze Rasse.
     
    Dennoch ging ich ins «Hope and Anchor» und fragte nach dem Verschwundenen. Ich war so weit gekommen, ich wollte nicht aufgeben. Der Mann an der Bar hieß Anthony Fox und war wie alle ein ehemaliger Sträfling. Aber im Gegensatz zu den Übrigen ging es ihm gut, denn er hatte sich entschlossen, von der Not der anderen zu leben. Er stand hinter einer Theke aus Messing und polierte sie mit einem Lappen, bis sie glänzte. Ich sah mein Gesicht darin, als ich mich vorbeugte, um ihm meine Frage zu stellen, und ich dachte, ob sich darin wohl auch einmal der Bart meines Vaters gespiegelt hatte.
    Ich bestellte ein Glas Gin, diesmal für mich, und nannte den Namen meines Vaters. Mehr sagte ich nicht,

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