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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Haar, das einstmals weiß gewesen sein muss, war im Nacken zu einem Zopf geflochten.
    Ich hielt mir die Hand vor den Mund und schwankte. Jack Lewis schenkte mir einen anerkennenden Blick, als würde ich mit meiner Reaktion ganz seinen Erwartungen entsprechen.
    «Du bist blass geworden», sagte er.
    Ich musste mich an der Tischkante festhalten, zog aber die Hand wieder zurück, als hätte mich ein Skorpion gebissen. Das Abscheuliche lag noch immer mitten auf dem Tisch. Ich hatte nur vage Erinnerungen an das Gesicht meines Vaters. Irgendwelche Bilder gab es nicht zu Hause. Jedes Mal, wenn ich versuchte, mir seine Gesichtszüge ins Gedächtnis zu rufen, hatte ich das Gefühl, es sei nur eine Einbildung, die ich vor meinem inneren Auge sah, so wechselhaft und unstet wie die Kumuluswolken am Himmel.

    Ein furchtbarer Verdacht stieg in mir auf. Die Worte entfuhren mir mit einem nur halb unterdrückten Stöhnen.
    Konnte es sein?
    «Mein Vater?», keuchte ich.
    Ich hätte nie gedacht, Jack Lewis mit seinem wie aus Holz geschnitztem Gesicht einmal in Lachen ausbrechen zu sehen. Nun zerbrach die Maske, und er lachte. Allerdings war es kein warmes oder herzliches Lachen. Es war so trocken und hart wie seine ganze Erscheinung. Aber er lachte.
    «Um Gottes willen», sagte er zwischen zwei Lachanfällen und schnappte nach Luft. «Das ist nicht dein Vater. Was glaubst du denn, wer ich bin?»
    Dann begann er wieder zu lachen. Als es schließlich vorbei war, bemerkte er, dass ich mit geballten Fäusten dastand. Mein Entsetzen war in Zorn umgeschlagen.
    «Werd nicht gleich böse», meinte er und streckte abwehrend die Hände aus. «Mir geht es doch nur darum, ein wenig zu deiner Bildung beizutragen.»
    Er nahm den Kopf vom Tisch.
    «Weißt du, wie man so einen Schrumpfkopf macht? Erst musst du ihn skalpieren. Aber nicht so wie die Rothäute in Amerika. Ihnen reichen ja die Kopfhaut und das Haar. Du musst die gesamte Gesichtshaut wegschneiden, sonst kann der Schädel nicht kleiner werden. Dann hängst du ihn zum Trocknen über ein Feuer. Von Ähnlichkeit kann hinterher kaum noch die Rede sein. Große Porträtkunst ist so ein Schrumpfkopf nicht gerade.»
    Er hielt den Kopf vor sein Gesicht und betrachtete ihn eingehend. Dann drehte er ihn so, dass ich mich auch daran erfreuen konnte.
    «Aber ein bisschen bleibt schon zurück. Ob seine alte Mutter ihn wohl wiedererkennen würde?»
    «Es ist ein Weißer», sagte ich.
    «Ja, selbstverständlich ist das ein weißer Mann. Glaubst du, ich würde einen Kannibalenschädel aufheben? Nein, der Kopf eines Weißen ist eine große Rarität. Ich musste auf Malaita zehn Gewehre dafür bezahlen. Dort sind alle Kopfjäger. Es war ein guter Handel. Kaum hatte ich die Gewehre geliefert und die Kannibalen in der Kunst des Schießens
unterrichtet, richteten sie die Gewehre auf mich. Ich erschoss alle fünf, bevor sie auch nur bis drei zählen konnten, was sie im Übrigen sowieso nicht konnten. Ich war nicht nur der weitaus erfahrenere Schütze, ich hatte auch vergessen, ihnen zu erzählen, dass sie die Gewehre entsichern müssten, bevor sie schossen. Leider kann ich den Schrumpfkopf eines Weißen nicht offen herumliegen lassen. Aber wenn ich allein bin oder, wie jetzt, zusammen mit jemandem, dem ich trauen kann, hole ich ihn heraus und schaue ihn mir an.»
    Er legte ihn zurück auf den Tisch. Ich starrte auf die entsetzlich verzerrten Züge. Und doch erkannte ich etwas Menschliches in dem albtraumartigen Äußeren des Schrumpfkopfes, und das war wohl das Schlimmste daran.
    «Wenn ich eine Religion habe, dann ist er es. Obwohl er stumm ist, erzählt er mir alles, was ich über das Dasein wissen muss. Schau her! Was sind wir? Eine Trophäe für andere, ein Feind, ja, das auch, aber vor allem eine Handelsware. Es gibt nichts, was man nicht kaufen oder verkaufen kann. Ich bezahlte mit Gewehren. Wäre diesen elenden Kannibalen die Bedeutung des Geldes bekannt gewesen, hätte ich einen passenden Preis gezahlt, und wir hätten diese beklagenswerte Episode mit dem Schusswechsel vermeiden können. Die ich im Übrigen nicht beklage. Auch das war ein Handel. Zu meinem Vorteil. Noch einen Drink?»
    Ich wollte eigentlich ablehnen, aber ich hatte das Gefühl, er sei nötig. Wir saßen in Kapitän Jack Lewis’ Kajüte und tranken mit einem Schrumpfkopf auf dem Tisch zwischen uns. Ich blickte ihn verstohlen an und begann mich an sein Vorhandensein zu gewöhnen.
    «Wer war es?», erkundigte ich mich.
    «Wenn ich es

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