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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Anthony Fox. In Marstal hätte ich ihn bestimmt wie die Pest gemieden, aber man lernt, die merkwürdigsten Menschen zu schätzen, wenn man weit von zu Hause fort ist. Er war ein Mann, der über die Dinge nachgedacht hatte. Er war geradeheraus, und er machte sich nicht besser, als er war.
    Er lud mich ein, am nächsten Tag an Bord der Flying Scud zu kommen, und ich bedankte mich für die Einladung.
    Wir hatten meinen Vater nicht mehr erwähnt.
     
    Das Licht eines skylight fiel auf den Tisch von Jack Lewis’ niedriger Kajüte. Mitten auf dem Tisch stand der Panzer einer Meeresschildkröte, der mit seltsamen Früchten gefüllt war, die ich nie gesehen hatte, bevor ich nach Hawaii kam. Die Kanaken nennen sie Ananas. Eine Lampe mit Waltran brannte, doch die eigentliche Lichtquelle schienen die Früchte zu sein, die mit ihren goldenen Farben wie ein Teil der Sonne leuchteten.
    Am Schott kämpften ein Speer und ein Schild mit zwei goldgerahmten Miniaturporträts um den Platz. Neugierig sah ich sie mir an. Eines zeigte
einen beleibten Herrn mit Backenbart und kräftigen Augenbrauen, das andere eine blasse, schwächlich aussehende Frau mit spitzer Nase, die vermutlich seine Gemahlin war.
    «Du brauchst sie dir nicht näher anzusehen», erklärte Jack Lewis, «ich habe keine Ahnung, wer die beiden sind. Ich fand sie in einem Schiffswrack und dachte, dass meine Kajüte ein wenig Zierwerk vertragen könnte. Solche Porträts verschaffen einem Mann Respekt. Sie lassen es so aussehen, als hätte ich Ahnen und eine Geschichte. Aber die habe ich nicht, und ich will sie auch nicht haben. Es wäre dumm für einen Mann in meiner Position.»
    «Schau ihn dir an», fuhr er fort, «ein kräftiger Mann mit einem großen Appetit aufs Leben. Und dann sie, ein schwächlicher Wurm mit einer Nasenspitze, die vom ewigen Heulen und Klagen bestimmt knallrot war. Viel Spaß hatte er sicherlich nicht mit ihr. Ich schaue sie mir hin und wieder an, weil sie mich daran erinnern, wieso ich hier bin. Nimm dir stattdessen den Stillen Ozean zur Braut. Sie wird für dein Auskommen sorgen und dir allen Spaß verschaffen, den du dir wünschen kannst.»
    Ich deutete auf die Wand.
    «Und die Waffen?»
    «Sind ein Geschenk des Pazifiks. Ein rasches, kleines Gerangel mit Kannibalen auf einer fernen Insel, an der niemand vorbeikommt. Nach so einer Schlacht spürst du, dass du lebst, wenn du über den Strand gehst und dir deine toten Feinde ansiehst. Die Waffen sind meine Trophäen. Sie erinnern mich daran, wo ich hier bin.»
    Er öffnete einen Wandschrank und nahm eine Flasche heraus. Sie war von ungewöhnlicher Form, mit einem weißen Inhalt, der wie Dampf oder kochende Milch herumzuwirbeln schien. Ich hatte den Eindruck, dass sich hinter dem Glas etwas Dunkles bewegte.
    Jack Lewis schüttelte den Kopf und stellte die Flasche zurück. Er nahm eine andere.
    «Scotch?»
    Ich nickte. Wir setzten uns einander gegenüber.
    «Und mein Vater?»
    «Er hatte einen anderen Blick auf die Dinge. Er teilte meinen Sinn für Spaß nicht. Er wollte etwas anderes als ich. Ich weiß nicht, was, aber dann mussten sich unsere Wege trennen.»

    Er prostete mir zu, und wir tranken.
    «Es war schade», fuhr Jack Lewis fort. «Er hatte es in sich. Er wäre hier draußen gut zurechtgekommen. Ich mochte ihn.»
    Er erhob sich und zog den Vorhang zur unteren Koje der Kajüte zur Seite. Er suchte etwas darin, und einen Augenblick später richtete er sich auf. In der Hand hielt er ein Päckchen, das er in einen Beutel eingewickelt hatte, der ehemals weiß, nun aber alt und vergilbt aussah. Er bleckte die Zähne zu einem Grinsen.
    «Da wir nun schon auf vertrautem Fuße stehen, möchte ich dir etwas zeigen. Dich sozusagen in das Allerheiligste einladen.»
    Er legte das Päckchen auf den Tisch und begann die Schnur um den vergilbten Beutel zu entknoten. Er tat es mit langsamen, sorgfältigen Handgriffen, beinahe so, als handelte es sich um eine Zeremonie, an der teilzunehmen er mich eingeladen hatte. Dann entfernte er mit einem schnellen Ruck den Beutel.
    Mir bot sich der abscheulichste Anblick, der sich mir je in meinem Leben offenbart hatte.
    Zunächst hätte ich dem, was ich sah, überhaupt keinen Namen geben können. Doch meine Augen waren wohl schneller als mein Gehirn. Noch bevor ich begriff, was da vor mir auf dem Tisch lag, zog sich mein Magen in Krämpfen zusammen, und mein Herz schien still zu stehen. Es war nicht viel größer als eine geballte Faust. Das schmutzige, verräucherte

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