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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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stand am Ruder, und wir segelten mit einer leichten Brise. Neben mir stand Jack Lewis. Er war ein Mann des Wortes, und er hatte es ernst gemeint, als er über seine Einsamkeit in Gesellschaft der Kanaken sprach, denn er wich selten von meiner Seite.
    «Du weißt es vielleicht nicht», sagte er, «aber du durchkreuzt den Stillen Ozean mit dem falschen Ziel.»
    «Was meinst du?», fragte ich.
    Er verstand es immer wieder, mich neugierig zu machen, obwohl ich selten mit seiner Philosophie einverstanden war.
    «Wenn ich einen jungen Mann wie dich frage, wo er hinwill, weißt du, was du da antworten musst, wenn du ein richtiger junger Mann mit Appetit aufs Leben bist? In die ganze Welt, hast du zu antworten, aufs Meer und all seine Inseln. Ein junger Mann geht zur See, um von seinem Vater fortzukommen. Doch du suchst nach ihm. Das ist der falsche Kurs. Ist es wegen deiner Mutter?»
    «Für meine Mutter wäre es am besten, wenn mein Vater tot wäre und es ein Grab gäbe, das sie besuchen könnte. Es täte ihr nicht gut, wenn sie wüsste, dass er noch am Leben ist.»
    «Also ist es nicht einmal ein Gefallen, den du ihr tust. Bist du sicher, dass es ein Gefallen ist, den du dir selbst tust?»
    «Ich muss die Wahrheit kennen.»
    «Was willst du von deinem Vater?»
    «Ein Mann braucht einen Maßstab.»
    «Einen Maßstab? Dann find einen anderen. Ein Schiff, deine eigenen Handlungen. Lass den Pazifik dein Maßstab sein. Schau dir die Dünung an. Größer wirst du sie nirgendwo finden. Diesen Wellen steht der halbe Globus zur Verfügung, um Anlauf zu nehmen. Du bist jung. Dir gehört der Globus. Sei nicht so besessen von der Vergangenheit.»
    Ich antwortete nicht. Was ich von meinem Vater wollte, ging Jack Lewis nichts an. Außerdem hatten wir einen Handel geschlossen. Ich fragte ihn nicht nach seinem Kurs. Also hatte er sich auch nicht in meinen einzumischen.

     
    Ich dachte an meinen papa tru. Früher hatte ich mich jeden Tag so nach ihm gesehnt, dass mir das Herz weh tat. Dann wurde ich erwachsen, und Bitterkeit mischte sich in die Sehnsucht. Ich hatte nie daran gezweifelt, dass er noch am Leben war, und ich nahm an, dass er verschwand, weil er verschwinden wollte. Ich musste wissen, warum.
    Das war alles.
    Welche Art Leben lebte er? Was sollte ich sagen, wenn ich ihm begegnete?
    Ich wusste es nicht. Ich hatte keine Rede vorbereitet. Ich musste ihn bloß sehen. Und dann?
    Auch darauf konnte ich nicht antworten. Ich wusste nur, dass er zu einem anderen Mann geworden war, während ich ihn suchte, und das war die Wahrheit über ihn. Er war ein Fremder. Vielleicht wollte ich dies nur bestätigt wissen. Ich suchte nach ihm, um von ihm Abschied zu nehmen.
     
    Es war ein Jahr her, seit ich Hobart Town verlassen hatte. Ich hatte den Stillen Ozean überquert, ihn aber nicht wahrgenommen. Jack Lewis hatte recht. Ich hatte den Blick abgewandt. Nun sah ich den Ozean zum ersten Mal. Ich sah seine lange Dünung, die Abgesandten ferner, längst abgeklungener Stürme. Ich sah Delphine springen und Haifischflossen, die das Wasser zerschnitten. Ich sah, wie große Schwärme Thunfisch das Meer zu Schaum aufpeitschten. Aber nur selten entdeckte ich eine Möwe, denn Land war immer weit entfernt. Ich sah den Albatros auf seinen großen Flügen dahingleiten. Er brauchte die Nähe des Landes nicht.
    Es hieß über den Stillen Ozean, er sei wie jedes andere Meer, nur größer, aber ich hielt das für Unfug. Es konnte so grau und aufgewühlt sein wie die Nordsee, so ruhig wie das Inselmeer bei Südfünen, doch über keinem anderen Meer habe ich den Himmel so blau und weit erlebt, und obwohl die Erde nicht flach ist und auch keine äußeren Ränder hat, entdeckte ich, dass der Stille Ozean ihre Mitte sein musste.
    In klaren Nächten, wenn ich allein am Ruder stand und selbst der ewig philosophierende Jack Lewis sich dem Schlaf ergeben hatte, stellten die Sterne die einzigen Landmarken dar. Ich fühlte mich wie ihr Nachbar, unterwegs in der Mitte des Universums.

    Die Kanaken saßen in der Stille und sahen ebenso wie ich hinauf zu den Sternen, und ich wusste, dass sie, dieses seefahrende Volk, das einst nach den fernsten Sonnen des Alls navigiert hatte, sich jetzt genauso zu Hause fühlten wie ich. Auf einmal verstand ich meinen papa tru. Es kommt ein Moment im Leben eines Seemanns, dachte ich, an dem er auf festem Grund und Boden nicht mehr länger zu Hause ist; und dann ergibt er sich dem Stillen Ozean, auf dem kein Land das Auge bremst, wo Himmel

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