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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wüsste, würde ich es nicht erzählen. Es muss dir reichen, dass ich ihn normalerweise Jim nenne. Schaust du dich manchmal im Spiegel an?»
    Jack Lewis’ Blick ruhte direkt auf mir.
    Wir hatten zu Hause einen kleinen Spiegel, aber der wurde in einer der Schubläden meiner Mutter verwahrt und nicht sonderlich häufig hervorgeholt. Ich hatte mich öfter im Schein einer Fensterscheibe gesehen als vor einem Spiegel gestanden, und auf keinem der Schiffe, mit denen ich gesegelt war, hatte im Mannschaftslogis ein Spiegel gehangen.
    «Nicht sonderlich oft», antwortete ich.

    Die Frage interessierte mich nicht, und ich verstand nicht, worauf Jack Lewis hinauswollte.
    «Das ist vernünftig. Tatsächlich solltest du dich nie im Spiegel betrachten. Der erzählt dir nichts als Lügen. Ein Mann sieht sich selbst im Spiegel und bekommt vollkommen falsche Vorstellungen von sich. Ich rede überhaupt nicht davon, was ein Spiegel mit einer Frau macht. Aber bei einem Mann geht es nicht darum, wie hübsch er ist. Die Eitelkeit des Mannes sitzt nicht im Gesicht, sie sitzt woanders. Durch den Spiegel aber kommt er dennoch auf die Idee, er sei etwas Einzigartiges und würde sich vollkommen von allen anderen unterscheiden. Doch so erscheint es nur ihm selbst. Weißt du, wie wir für andere aussehen, in diesem Spiegel, der hier sitzt?»
    Er wies auf seine Augen.
    «Ich werde es dir zeigen.»
    Er packte Jims Zopf mit seiner klauenähnlichen Hand und schaukelte ihn vor meinen Augen. Ich fuhr erschrocken aus dem Stuhl auf.
    Jack Lewis lachte triumphierend.
    «Das bist du», sagte er. «So siehst du in meinen Augen aus. Das bin ich. So seh ich in deinen Augen aus. So sehen wir uns gegenseitig. Das ist doch die erste Frage, die wir uns stellen, wenn wir uns gegenüberstehen: Wie kann er mir nützlich sein? Wir alle sind füreinander Schrumpfköpfe.»
    Er setzte sich wieder, goss sich noch ein Glas ein und sah mich herausfordernd an.
    «Noch einen Drink?»
    Ich schüttelte den Kopf. Ich spürte, dass mein einziges Bedürfnis darin bestand, von diesem Mann wegzukommen. Aber das ging nicht. Ich war so weit gereist, um ihn zu finden. Ohne ihn spürte ich meinen papa tru niemals auf. Noch hatte ich ihn nicht gefragt, wo er sich befand, doch Jack Lewis kam mir zuvor.
    «Ich weiß, wo dein Vater ist», sagte er. «Ich werde dir einen Handel vorschlagen. Ich bringe dich dorthin, aber selbstverständlich ist dafür ein Preis zu zahlen.»
    Er blickte auf Jim und lachte erneut.
    «So ist das. Etwas für etwas. Ich bin es leid, nur Kanaken in meiner Gesellschaft zu haben, und es fällt mir schwer, eine Mannschaft in meiner
eigenen Rasse aufzutreiben. Du wirst mein Steuermann, vermutlich eine Beförderung für einen jungen Mann deines Alters. Eine Heuer bekommst du nicht, dafür aber freie Kost und Logis und die Überfahrt. Und nun kommt das Wichtigste.»
    Er hob den Zeigefinger und sah mich mit einem Ernst an, der mir geheuchelt schien. Allerdings kannte ich ihn nicht gut genug, um den Ausdruck seiner Augen zu deuten.
    «Ich bin dein Kapitän, und du hast meinen Befehlen zu folgen.»
    «Ich folge nur meinem Gewissen.»
    «Und was bietet dir dein Gewissen so an?», fragte er in spöttischem Ton.
    «Mein Gewissen mischt sich nicht in den Kurs ein, und es interessiert sich auch nicht für die Heuer oder Freiwachen. Ich habe keine Angst, hart zu arbeiten. Allerdings gibt es Dinge, die mir mein Gewissen verbieten zu tun.»
    «Wir werden sehen», entgegnete Jack Lewis. «Du hast die Wahl. Dein Vater oder dein Gewissen.»
    «Wo ist mein Vater?»
    «Das verrate ich nicht. Der Stille Ozean ist groß, und er befindet sich nicht gerade in der Nähe. Der Passat bläst, wie er soll, und ich verspreche dir, keine Umwege zu machen. Na, was ist? Ja oder nein?»
    «Ja», antwortete ich.

    Vierzehn Tage später brachen wir auf. Der Laderaum war gefüllt. Womit, wusste ich nicht. Kapitän Jack Lewis hielt mich mit Absicht von der Ladung fern.
    «Das Übliche», antwortete er auf meine Frage.
    Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter in ihn zu dringen.
    Die Spottlust kehrte in seinen Blick zurück.
    «Denk an dein Gewissen. Was es nicht weiß, macht es nicht heiß.»
    Der Kurs ging in Richtung Südwest, aber dadurch wurde ich auch nicht klüger. Hawaii lag im östlichen Teil des Stillen Ozeans, und der Kurs bestätigte nur, was ich bereits geahnt hatte: Dass mein papa tru
sich dort draußen auf einer der tausend Inseln dieser großen Einöde aus Wasser befand.
     
    Ich

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