Wir Genussarbeiter
Phantasien ins Ohr flüstere? »Ich vermisse nichts, auch nicht jene Form von Sexualität, wie sie zum Beispiel Monica Lewinsky mit Bill Clinton praktiziert hat«, sagt die Wiener Bürgermeister-Ehegattin Dagmar Koller über ihre sexlose Ehe. »Also nein, das machen wir nicht…
[H]eute bin ich froh, dass ich eine so zärtliche Liebe leben darf…« Im Zuge der gegenwärtigen Pornographisierungsdebatte wird diese Abspaltung von Liebe und Sex einmal mehr vollzogen: Mit dem Finger zeigt man auf die böse Sexualität, gepriesen hingegen werden Zärtlichkeit, Zuneigung, Respekt – ganz so, als ob beides nicht durchaus zusammenginge. »40 Tage ohne Sex«, so hieß eine Sendung des niederländischen Fernsehens im Jahr 2008. Jugendliche mussten versprechen, vierzig Tage lang zu ›fasten‹, also keinen Geschlechtsverkehr und kein Petting zu haben, nicht zu masturbieren und auch keine Pornos zu konsumieren. Auf diese Weise, so lautete die Rechtfertigung vonseiten des Senders, wolle man der gesellschaftlichen Übersexualisierung entgegenwirken. In Wahrheit aber wurde weniger die Pornographie als vielmehr Sex als solcher an den Pranger gestellt.
Auch im Kino ist der Abgesang auf die Sexualität längst angestimmt worden. Zwar sieht man heute auf der Leinwand in der Tat Geschlechtsteile, aber sogenannte post-pornographische Filme wie Patrice Chéreaus Intimacy , Larry Clarks und Edward Lachmans Ken Park , Catherine Breillats Romance oder Michael Winterbottoms Nine Songs feiern den Sex nicht, sondern dekonstruieren sein ehemaliges Glücksversprechen gründlich, indem sie ihn in seiner ganzen Pockennarbigkeit, seiner kläglichen Alltäglichkeit präsentieren. »Im post-pornographischen Blick ist die Sexualität zerfallen«, meint der Filmtheoretiker Georg Seeßlen. »Die Naheinstellung fetischisiert nicht mehr, sondern dokumentiert die Fremdheit. Der postpornographische Blick ist vor allem ein gespaltener, einer, der sich vor lauter Verzweiflung darüber, dass sich das Objekt der Begierde umso mehr entzieht, je genauer man hinsieht, in seine analytische Strafe verkehrt. Der Blick wird zum Zwang. Ist es also das, was ihr sehen wollt? Dann seht nur noch genauer
hin. Und erkennt euch selbst.« Der Post-Porno funktioniert wie ein altes, rissiges Foto, auf dem nur noch schemenhaft der Star von einst zu erkennen ist, und lediglich erahnbar ist die Begeisterung, die er auslöste. In den sechziger Jahren noch versuchte man Revolutionen auf den Sex zu gründen, glaubte, sich durch ihn befreien zu können, und zwar nicht nur von bürgerlichen Idealen, sondern auch von entfremdeter Arbeit: »Die unverklärte, unrationalisierte Freigabe der sexuellen Beziehungen wäre die stärkste Freigabe des Genusses als solchem und die totale Entwertung der Arbeit um der Arbeit willen«, schrieb der Philosoph Herbert Marcuse damals. »Die Spannung zwischen dem Selbstwert der Arbeit und der Freiheit des Genusses könnte innerhalb eines Menschenwesens nicht ertragen werden: die Trostlosigkeit und Ungerechtigkeit der Arbeitsverhältnisse würden eklatant das Bewusstsein der Individuen durchdringen und ihre friedliche Einordnung in das gesellschaftliche System der bürgerlichen Welt unmöglich machen.« Heute hingegen ist der Sex nicht mehr, so scheint es, als eine überkommene Illusion: All die Verwicklungen und Verstrickungen, all die Verletzungen, enttäuschten Hoffnungen und unerfüllten Wünsche, die mit ihm verbunden sind! Wird die Welt wirklich besser, menschlicher, liberaler, wenn jeder mit jedem schläft? Ja, ist der Sex nicht, sobald er zum Heilsversprechen stilisiert wird, im Grunde selbst Arbeit? Eine Art Revoluzzerpflicht? Und überhaupt, so fragen Postmodernisten, Dekonstruktivisten und Postfeministen durchaus zu Recht, was soll ›freier‹ Sex eigentlich sein? Ist heterosexueller Sex frei? Oder homosexueller? Oder sadomasochistischer? Oder Gruppensex? Ist die Perversion etwa frei, nur weil sie sich dem Sittlichen widersetzt? Die Perversion ist genauso unfrei und unnatürlich wie die Sitte selbst, denn das Perverse, das ›Umgekehrte‹, kann es nur vor dem Hintergrund des Sittlichen
geben. Eine freie Sexualität, die sich der Arbeit, der Gesellschaft, der Warenakkumulation radikal widersetzen würde, existiert nicht, denn jede noch so abwegige Perversion ist immer schon geprägt, ja sogar überhaupt erst produziert worden von kulturellen Diskursen und Praktiken, die mit der Erfindung der Humanwissenschaften auf den Plan traten. So schreibt
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