Wir Genussarbeiter
nahe, dass sich unsere zwanghaft exhibitionistische Pornokultur vor erotischer Sexualität nachgerade fürchtet . »Je mehr die Gesellschaft als ganze ihre kulturellen Bezüge zur Sexualität verliert, desto drastischer sind die Bilder davon, die auf ihren Bühnen erscheinen«, schreibt Robert Pfaller. »Und zwar mit einer doppelten Funktion: sowohl, um der verbliebenen Sehnsucht Nahrung zu geben, als auch, um von der Sache abzuschrecken und über ihren Verlust hinwegzutrösten.« Sex, so Pfaller, gibt es in unserer Gesellschaft nur noch als Extrem. »Wenn es keine Normalvorbilder des Genusses mehr gibt, dann treten nur noch deren Zerrbilder in Erscheinung. Das Zerrbild des Genusses ist der Süchtige; das Zerrbild der Sexualität ist der Popstar oder der Talkshowgast.« In Doku-Soaps wie Big Brother oder Dschungelcamp geben Menschen ihre intimsten Geheimnisse preis, entblößen sich, kopulieren gar vor der
Kamera. In Hip-Hop-Videos kreisen Frauen bis zum Schwindeligwerden mit ihren Hüften, halten ihre Brüste, Hintern, Schenkel in die Kamera, und vor allem im Porno selbst wird uns der Sex bis zur Absurdität verdinglicht präsentiert. Grell leuchten die Scheinwerfer den Koitus aus, Beine werden angewinkelt, damit man die Penetration besser sehen kann – und je drastischer der Geschlechtsakt dargestellt wird, umso mehr sehen wir gebannt zu; ganz ähnlich, wie auch ein exotisches Tier umso faszinierender ist, je näher man ihm kommt und je gefährlicher es sich gebärdet. Vorausgesetzt allerdings, dass es sich hinter Gittern beziehungsweise bruchsicherem Glas befindet. Ohne diese unüberwindbare Grenze würde man schreiend davonlaufen, würde sich fürchten und womöglich auch ekeln. Sobald man sich aber sicher fühlt, verwandelt sich der Ekel in Attraktion, ja, man kann sogar am Gitter rütteln oder gegen das Glas klopfen, um das Tier ein wenig zu reizen, damit es sich aufbäumt und sich in seiner ganzen Widerwärtigkeit zeigt. Genau das geschieht in interaktiver Webcam-Pornographie: Konsumenten sagen Frauen per Telefon, was sie tun sollen vor der Kamera, während sie selbst bequem vor dem PC sitzen und die Bilder, die über den Monitor laufen, auf sich wirken lassen: Komm schon, Kleines, zeig mir deine Muschi! Lass dich gehen! Je wilder, desto geiler! Zumindest, solange sich die Mattscheibe zwischen mir und dir befindet …
Indem unsere Gesellschaft den Sex hinter die Scheibe bannt, schürt sie einerseits die Sehnsucht nach ihm und pathologisiert ihn gleichzeitig. Sie grenzt sich im wahrsten Sinne des Wortes von ihm ab und degradiert »das Tier mit den zwei Rücken«, wie Jago in William Shakespeares Othello den Geschlechtsakt nennt, zu einem erregenden Ausstellungsobjekt, das zwar bestaunt, aber auf keinen Fall angefasst werden darf: Seht her! Ist das nicht animalisch? »Denn der natürliche Gebrauch,
den ein Geschlecht von den Geschlechtsorganen des anderen macht«, so schrieb immerhin schon Immanuel Kant in seiner Metaphysik der Sitten , »ist ein Genuß, zu dem sich ein Teil dem anderen hingibt. In diesem Akt macht sich ein Mensch selbst zur Sache, welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet.« Sex, meinte Kant, widerspricht dem Menschsein schlechthin, weil die Koitierenden sich im Dienste ihrer Lust wechselseitig instrumentalisieren. Und in der Tat: Je mehr sich die Lust beim Koitus steigert, desto stärker konzentriert sich der Mensch auf die pochende Mitte seines Körpers beziehungsweise auf das Genital des Anderen, das dieses Pochen erzeugt. Das achtbare Wesen des geliebten Gegenübers tritt dabei genauso zurück wie das Wesen eines Rindes, dessen saftiges Fleisch man gerade verzehrt (insofern man sich das Fleischessen nach Karen Duves Vegetarismus-Aufruf Anständig essen überhaupt noch erlaubt). Und wo, fragt Kant, bleibt da bitte schön der Respekt? Dann doch lieber völlige Entsagung! Asketische Hingabe an die reine Vernunft!
Auch zweihundert Jahre nach Kant scheinen wir die tiefe Ambivalenz der Sexualität, ihr Schillern zwischen Gewalt und Lust, zwischen Verdinglichung und Vereinigung, zwischen schmutzigem Fick und heiligem Eros, offenbar kaum auszuhalten. Dass viele Paare, ob verheiratet oder nicht, keinen Sex haben, hat tatsächlich nicht nur etwas mit Überdruss zu tun, sondern auch mit einem diffus empfundenen Schuldgefühl: Kann ich den Anderen denn lieben, wenn ich mich an ihm und mit ihm verlustiere, wenn ich ihn zu obszönen Handlungen animiere und ihm dreckige
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