Wir Genussarbeiter
Experten schätzen, dass jede siebte Beziehung in Deutschland eine Fernbeziehung ist, unter Akademikern ist es jede vierte. Der Trendbericht Sexstyles 2010 zieht daraus das Fazit: »Die Zukunft gehört mehr denn je dem medialen Sex.« Vibratoren, die sich an den iPod anschließen lassen und sich im Rhythmus der Musik bewegen, gibt es schon jetzt; die nächste Dildo-Generation aber ist, dank hoch technisierter »Teledildonik«, interaktiv! »Die Vibratoren 2.0 durchbrechen die Grenze zwischen Virtualität und realem Sex«, schreiben die Beate-Uhse-Zukunftsforscher. »Digitale Sexspielzeuge lassen sich nicht nur ans Multimedia-Equipment anschließen – ›Plugand-Play‹ bekommt da eine ganz neue Bedeutung –, sondern via Internet auch in Echtzeit fernsteuern. Im digitalen Zeitalter wird es so immer besser möglich, sich trotz räumlicher Trennung gegenseitig zu spüren.« Chatten und Skypen war gestern,
morgen wird digital gevögelt – wobei allerdings unklar ist, was uns dann mehr erregt: der Sex oder die technischen Möglichkeiten, ihn zu übermitteln? Tatsächlich ist es ja schon jetzt so, dass jener Reiz, der ehemals vom Sexuellen ausging, in einem immer stärkeren Maße von den Medien selbst ausgeübt wird. Ob iPhone oder iPad, immer faszinierter sind wir von den technischen Innovationen, unaufhörlich fummeln wir an ihnen herum, fahren mit dem Finger über Displays, lustvoll, ausdauernd. »Bin ich schon drin?«, fragte Boris Becker Ende der neunziger Jahre unüberhörbar doppeldeutig in einem Werbespot für einen Internetanbieter, und fügte hinzu: »Das ist ja einfach.« Das Internet lässt sich erobern wie eine willige Frau, wollte Boris Becker uns sagen: Nur ein paar unbeholfene Berührungen auf der Benutzeroberfläche, und schon öffnet sich der virtuelle Bildraum für jedermann. Es bedarf keines technischen Vorwissens, keines aufwändigen Einarbeitens, keines lustverzögernden Vorspiels mehr, um in diesen Raum einzudringen.
Dank VDSL ist man heute sogar in Millisekundenschnelle ›drin‹ – und ist da die Verlockung nicht groß, lieber virtuellen Sex zu genießen, als sich den zeitaufwendigen Mühen rituellen Balzens und Beschnupperns und Betastens auszusetzen? Früher, vor der Erfindung des Internets, musste man immerhin noch gewisse Anstrengungen unternehmen, um in die Welt der Cumshots und Blowjobs zu gelangen. Wer Pornos wollte, dem blieb nichts anderes übrig, als den Mantelkragen hochzuschlagen und in einen Sexshop oder einen Pornoverleih zu schlüpfen, immer in der Gefahr, gesehen zu werden. Heute hingegen bedarf es nur noch einiger Klicks, und schon kann man wählen zwischen ›anal‹ und ›amateur‹, ›big titts‹, ›big cocks‹ und ›lesbian‹. Wie anstrengend und zeitaufwendig dagegen ist es, sich mit den Begierden und Wünschen eines
Menschen aus Fleisch und Blut auseinanderzusetzen – ja, überhaupt erst einmal einen Partner zu finden! »Fakt ist doch, dass die Leute in einer pornographisierten Gesellschaft weniger Sex haben«, meint Ariadne von Schirach in ihrem Buch Tanz um die Lust . »Warum noch rausgehen, wenn die Erfüllung jedweder Phantasie nur einen Klick weit entfernt ist?« Im Internet ist sexueller Genuss ohne jeden Triebaufschub möglich: Nur einmal auf Enter klicken, und schon sind sie da, die unzähligen Amateurvideos und Werbetrailer mit Titeln wie »Monstercock deep in her ass« oder »Lucky guy fucks four Hotties« oder »Raw but willing to please!«. Klick. Klick. Klick.
Eine solche Art des sexuellen Genießens ist leicht, kinderleicht sogar – befriedigend aber ist sie nicht. Wer zu einem Porno masturbiert, hat kein Gegenüber, das die Lust spiegeln könnte, sondern lediglich einen Film, der nichts abverlangt: weder eine intensive Auseinandersetzung noch Einfühlungsvermögen und schon gar keine Phantasie. Die sexuelle Erregung geschieht vielmehr wie von allein – ganz ähnlich wie der Appetit automatisch angeregt wird, wenn man geschmacksverstärkte Kartoffelchips konsumiert. Man muss sie essen, aber gesättigt fühlt man sich nicht, im Gegenteil: Und schon stopft man die nächste Handvoll in sich hinein. Und noch eine. Und noch eine. Und wenn man dann doch irgendwann aufhört, ist man nicht befriedigt, sondern frustriert.
Ganz ähnlich empfindet übrigens, um von hier aus noch einmal auf die Arbeit zu sprechen zu kommen, der ermattete Workaholic am Ende eines Tages. Was für den Pornokonsumenten ein erigierter Schwanz oder eine feuchte Möse ist, stellt
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