Wir Genussarbeiter
Wiener Musicalstar Dagmar Koller und ihr Ehemann, der einstige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk, miteinander teilen. Und in der Welt am Sonntag lautete eine Schlagzeile: »War die Ehe in den fünfziger Jahren aufregender als heute?« Der Artikel beschäftigte sich unter anderem mit einer Studie des Kinsey-Instituts für Sexualforschung in Bloomington, Indiana,
derzufolge die sexuelle Revolution zu einer Abwertung der Erotik geführt habe: »Die Menschen haben nicht mehr so viel Sex wie früher«, so der Institutsdirektor John Bancroft. Tatsächlich hat sich der Trend hin zur Asexualität auffallend verstärkt; oder zumindest outen sich immer mehr Menschen, die kein Bedürfnis nach Sex verspüren. Asexual Visibility and Education Network , so heißt das Internetforum, das der Amerikaner David Jay 2001 gründete und das mittlerweile auch eine Plattform in Deutschland hat. Und wer glaubt, dass sich nur die angeblich ohnehin frigiden Frauen bei AVEN melden, irrt gewaltig: Seit den neunziger Jahren sind vielmehr Frauen es, die sich in den Beratungsstellen gehäuft über ihre sexunwilligen Männer beklagen.
Allerdings ist es bei genauerem Hinsehen durchaus fraglich, ob die offenbar zunehmende – oder doch zumindest in auffälliger Weise thematisierte – Lustlosigkeit lediglich auf den Wegfall von Verboten, das heißt auf die sexuelle Liberalisierung, zurückzuführen ist. Denn wie befreit ist der Sex heute wirklich? Natürlich, es stimmt, Sex im Bild zu sehen , ihn zu konsumieren und offen über ihn zu sprechen , stellt heute kein Problem mehr dar. Aber was ist mit real vollzogenem Sex? Können wir uns etwa, wann und wo wir wollen, der Lust hingeben, nur weil 1975 die Pornographie legalisiert wurde? »Dass Sex an jeder Straßenecke ausgestellt und wie ein x-beliebiges Waschmittel behandelt wird, davon braucht man sich nichts zu erhoffen«, hielt Jacques Lacan bereits in den siebziger Jahren fest. »Es ist eine Modeerscheinung, Teil der angeblichen Liberalisierung, die uns von oben gewährt wird und mit der uns die sogenannte permissive Gesellschaft beglückt.« Die Sexualität ist nicht befreit, sie wird nur zunehmend vermarktet: Was früher das Pin-up-Girl im Spind war, ist heute der 24-Karat-Dildo, den man sich zur Zierde auf den
Kaminsims stellen kann, und Sexshops, ehemals schmuddelig im Abseits gelegen, gleichen neuerdings Wellness-Centern, in denen Paare sich in entspannter Atmosphäre zum Smart Sex inspirieren lassen können. Dass Sex sich bekanntermaßen gut verkauft, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch unsere Gesellschaft ganz fundamental auf Triebverzicht beruht – und zwar in extremem Maße. Noch nie war der Leistungsdruck so groß wie heute, bis zum Burnout verausgabt sich der Mensch in der Arbeit, ständig ist er verfügbar, legt Abend- und Nachtschichten ein, weil sich das Gefühl, genug getan zu haben, nicht einstellen will – und dabei bleibt der Sex, um den sich doch heute augenscheinlich alles dreht, zwangsläufig auf der Strecke.
Tatsächlich setzt ja schon ein ganz normales Verhältnis zur Arbeit eine gewisse sexuelle Abstinenz voraus: »Der Sexualtrieb«, schreibt Sigmund Freud, »stellt der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, und dies zwar infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentümlichkeit, sein Ziel verschieben zu können, ohne wesentlich an Intensität abzunehmen. Man nennt diese Fähigkeit, das ursprüngliche sexuelle Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, aber psychisch mit ihm verwandtes, zu vertauschen, die Fähigkeit zur Sublimierung.« Anstatt die sexuelle Spannung unmittelbar abzubauen, muss der Mensch diese Spannung aufrechterhalten und sie in Kulturarbeit verwandeln – und tatsächlich ist nur so die Leidenschaft zu erklären, die viele Menschen für ihre Arbeit empfinden. Allerdings war Freud durchaus skeptisch, ob sich alle sexuelle Energie in Arbeit verschieben lässt und der Mensch für vollkommene sexuelle Enthaltsamkeit tatsächlich geschaffen ist: »Ins Unbegrenzte fortzusetzen ist dieser Verschiebungsprozess aber sicherlich nicht, so wenig wie die Umsetzung der Wärme in mechanische Arbeit bei
unseren Maschinen. Ein gewisses Maß direkter sexueller Befriedigung scheint für die allermeisten Organisationen unerlässlich, und die Versagung dieses individuell variablen Maßes straft sich durch Erscheinungen, die wir infolge ihrer Funktionsschädlichkeit und ihres subjektiven Unlustcharakters zum Kranksein rechnen
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