Wir Genussarbeiter
für ihn der Arbeitsauftrag oder das Arbeitsangebot dar. Sofort nimmt er alles an, gibt der Versuchung zwanghaft nach, ohne dass sich das mit diesen Reizen verbundene Glücksversprechen je einlöste.
Nehmen wir zum Schluss einmal an, Freud hätte recht mit seiner Spekulation und in ferner, ferner Zukunft lebten wir tatsächlich in einer Gesellschaft oder gar in einer Welt, in der nur noch gearbeitet, verwertet, produziert und nicht mehr sexuell verschwendet wird. Muss diese Gesellschaft, muss diese Welt nicht früher oder später an ihrem eigenen Wachstum kollabieren? So wie die Workaholic-Lustmaschine an ihrem unausgesetzten Aktivismus? Und was hält die Menschen, wenn sie keinen Sex mehr haben, noch zusammen? Was verbindet sie mehr als erotische Anziehung? Was macht sie vertrauter miteinander als körperliche Hingabe? Und wo ließen sich all die Aggressionen, die das Leben in Gemeinschaft mit sich bringt, wo ließen sich Gier, Wollust, Neid und brennende Eifersucht sozialverträglicher und gleichzeitig leidenschaftlicher ausagieren als im sexuellen Akt?
Eine Welt ohne Sex wäre bevölkert von versprengten Individuen, die sich längst nicht mehr nur vor Exkrementen und Schmutz, sondern in immer stärkerem Maße auch vor Hautkontakten ekeln. Ein hochneurotischer, sozialphobischer Einzelgänger wäre der Mensch der Zukunft, unzugänglich, einsam, zwanghaft, nur noch für sich selbst genießend in eigentümlichen Zeremonien. Gewiss, noch ist diese Zukunft weit entfernt, und womöglich wird sie auch nie eintreten; vielleicht aber hat sie auch schon begonnen, und wir haben es nur noch nicht gemerkt?
Die Heiligkeit der Muße
Warum wir Rituale brauchen
Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte waren Rituale gesellschaftlich fest verankert. Sie dienten dazu, den Menschen, der als Kulturwesen ständig zu Triebverzicht gezwungen ist, zu entlasten, indem sie ihm Nischen des Nichtstuns, der Entspannung, der Feierlichkeit, der Besinnung und der Ekstase gewährten. Ob Erntedankfest, Karneval oder Gottesdienst, ob Sonntagsspaziergang, Feierabendbier oder die genüsslich gerauchte Zigarette an der Bar: Das Ritual markierte einen Zwischenraum, in dem man die Betriebsamkeit des Alltags vergessen, ja, in dem man sogar Grenzen überschreiten durfte, die für das menschliche Zusammenleben normalerweise obligatorisch sind. Für viele Urvölker etwa war es kennzeichnend, dass sie auf die Verspeisung bestimmter Tiere verzichteten, die ihnen als heilig galten. Im Rahmen ritueller Totemmahlzeiten aber wurde das Verbot gemeinschaftlich-ekstatisch überschritten, die Menschen tanzten, tranken, aßen, das heilige Tier wurde einverleibt – und mit ihm das Fundament der Kultur, der Glaube an das Totem.
Auch die großen Religionen feiern bis heute Rituale der lustvollen Verbotsüberschreitung wie das ›Fastenbrechen‹. In islamischen Ländern etwa steht am Ende des Fastenmonats Ramadan, des neunten Monats des islamischen Mondkalenders, das mehrtägige ›Zuckerfest‹ an; und in christlichen Kulturen endet die Fastenzeit mit dem Osterfest und dem Verzehr
des Osterlamms, das Jesus Christus und dessen Auferstehung symbolisiert.
Natürlich haben Rituale viele Funktionen, auf die wir weiter unten noch zu sprechen kommen werden; nicht zuletzt dienen sie dazu, dem Tag eine Struktur zu geben, das Dasein in eine Ordnung zu überführen. Doch Rituale sind auch dazu da, um gesellschaftlich legitimierte Ausnahmezustände zu ermöglichen, in denen der Mensch sich der Muße hingeben, sich besinnen, träumen, phantasieren, in Ruhe rauchen, trinken, essen und, nicht zuletzt, feiern darf. Die mit der Feier verbundene Ausgelassenheit dient dabei durchaus nicht nur der Triebabfuhr, sondern auch dem Gemeinschaftsgefühl: Das Volksfest etwa, das seinen Namen nicht umsonst trägt, holt den Einzelnen aus seiner Isolation und seiner Alltagsgeschäftigkeit heraus, bindet ihn in feierliche Traditionen ein und erzeugt so ein tiefes Gefühl der Zugehörigkeit. »Man kann nicht zur gleichen Zeit individueller Akteur, der sich selbst bestimmt, und Verkörperung der sozialen Struktur und überlieferten Konventionen der Gesellschaft sein«, schreibt der amerikanische Soziologe Albert Bergensen in seiner Abhandlung über Die rituelle Ordnung. »Man befindet sich entweder in der einen oder der anderen Realität, und das Ritual ist der Mechanismus, der die zerstreuten Gefühle der Individuen einigt und das Erlebnis der Gemeinschaft hervorbringt.«
Je aufgeklärter nun
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