Wir Genussarbeiter
der französische Historiker Michel Foucault, eine der Galionsfiguren der Postmoderne: »Das 19. und unser [20., S. F.] Jahrhundert sind eher ein Zeitalter der Vermehrung gewesen: einer Verstreuung der Sexualitäten, einer Verstärkung ihrer verschiedenartigen Formen, einer vielfältigen Einpflanzung von ›Perversionen‹.« Wer also die Sitte umkehrt und sich zwanghaft im ›perversen‹ Sex verausgabt, stützt sie eher, als dass er sie untergräbt.
Die sexuelle Revolution wollte mit der strengen Sexualmoral der Nachkriegszeit endgültig brechen: »Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment«, so lautete der bekannte Spontispruch. Weg mit der Ehe, weg mit der patriarchalen Unterdrückung der Lust, weg mit den bürgerlichen Verhältnissen, weg mit dem Kapitalismus! Die Kinder der damaligen Revolutionäre aber scheinen sich heute wieder an genau eben jenen Werten zu orientieren, die ihre Eltern so hart bekämpften: »Im Querschnitt aller seriösen Studien zur Entwicklung der Erotik und Sexualität der letzten Jahre ergibt sich folgendes Bild«, so heißt es in der Trendstudie Sexstyles 2010 , die von der Beate Uhse AG in Auftrag gegeben wurde: »Die Sexhäufigkeit hat im letzten Jahrzehnt vor allem in den jungen Altersgruppen eher leicht abgenommen, während das Treuebedürfnis eher wächst. Die Koitus-Frequenz der Studenten ist seit 1981 gesunken, sexuelle Treue steht heute höher im Kurs als in den Jahrzehnten zuvor.« Dass die Jugend von heute – insbesondere die arme, bildungsferne – sexuell
verwahrlose, wie in den Medien immer wieder behauptet wird, ist folglich barer Unsinn. Solche Skandalmeldungen dienen dem kulturbeflissenen Mittelschichtler lediglich dazu, sich am angeblich primitiven Pornoproletariat »abzuputzen«, wie Robert Pfaller es formuliert. Tatsächlich zeigen Sexualforscher in ihren Studien immer wieder, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Zweimal mit derselben zu pennen ist heute quer durch alle Schichten wieder ›in‹ – womöglich nicht zuletzt aufgrund der familiären Zerrüttungen, die der ›freie‹ Sex in den 1970ern nach sich zog, oder wegen der Angst vor Aids. Vielleicht aber auch, weil heutige Ausbildungsgänge keine Zeit lassen für sexuelle Experimente und das Dazugehören zum Establishment immerhin besser ist, als von Hartz IV zu leben.
Vor einigen Jahrzehnten war es noch recht leicht, sexuell aus- und vom beruflichen Lebensweg abzuschweifen. Schön, so ein halbes Jahr auf Gomera mit Gitarrenmusik, Wasserpfeifen und fernöstlich inspirierter Liebeskunst am Strand, wenn man sicher sein kann, auch in ein paar Monaten noch einen Arbeitsplatz zu bekommen. In unserer heutigen Gesellschaft aber, in der bereits Jugendliche an ihrer Karriere basteln und die immer mehr auf Effizienz setzt, wirkt jede Form von Müßiggang zunehmend anachronistisch, ganz zu schweigen von zeitaufwendiger Erotik. Wie bitte? Vorspiel? Lust um der Lust willen? Da gehe ich doch lieber zum Sport! Der auf Leistung getrimmte Mensch verschleudert seine überschüssigen Energien nicht, sondern investiert sie in Muskeln und gesteigerte Produktivkraft. »Vergeude keine Energie, verwerte sie!«, so forderte der Chemiker und Philosoph Wilhelm Ostwald bereits am Beginn des Industriezeitalters in seinem Energetischen Imperativ, ein Befehl, der heutzutage offenbar mehr gilt denn je. Jedes Jahr gewinnen deutsche Fitnessstudios weit über 600 000 neue Mitglieder hinzu, und in amerikanischen Sportclubs
hat sich für die vielen Dauerabonnenten die Bezeichnung permanent residents eingebürgert, weil sie den Trainingsraum praktisch kaum mehr verlassen. »Der Fitnesstrainer ersetzt den Geliebten, Sport ist wichtiger als Sex«, so hieß es in einer Zeitungsmeldung über Madonna, nachdem bekannt geworden war, dass sie jeden Tag vier Stunden in ihrem Fitnessraum verbringe und damit ihre Ehe ruiniert habe. War bis in die achtziger Jahre hinein noch Sex der Garant für Erfüllung, ist es in Zeiten des immer größer werdenden Konkurrenz- und Leistungsdrucks der Sport. Wenn wir genießen wollen, geben wir uns nicht mehr einem anderen Körper, sondern dem Sportgerät hin, geradezu zwanghaft verausgaben wir uns beim Hantelnstemmen, Laufbandjoggen oder Fahrradfahren.
Dass die Koitus-Frequenz sinkt, hat außerdem – wiederum eine Folge der heutigen Arbeitsverhältnisse – mit der Zunahme an Wochenendbeziehungen zu tun. Wie denn miteinander schlafen, wenn der eine in Berlin, die andere in Brüssel wohnt?
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