Wir Genussarbeiter
versteht es, sich jeden Tag sein ganz privates Abendmahl zu bereiten.
Allein, was manchen Menschen ohne große Mühen gelingt und sie bewunderungswürdig macht, wirkt bei anderen angestrengt, gar gezwungen . Wie ein Pastor den Gottesdienst zelebriert, so zelebriert manch ein Ritualmensch seine Mahlzeiten,
seine Morgengymnastik, seinen Feierabend vor dem Fernseher: nämlich nach ganz bestimmten Gesetzen und mit einer Gewissenhaftigkeit, als müsste bei jedwedem Regelbruch mit fürchterlichsten Konsequenzen gerechnet werden. Eine solche Zwanghaftigkeit resultiert, psychoanalytisch gesprochen, aus einer als verboten empfundenen und also gründlich verdrängten Triebregung, die der Mensch durch die Gesetzmäßigkeit der Handlung niederzuhalten versucht: Nur wenn ich die Handlung immer gleich vollziehe, geschieht kein Unglück, sprich: macht sich die Triebregung nicht bemerkbar und mein Gewissen verschont mich! Die Handlung wirkt wie ein Abwehrzauber gegen den Trieb respektive gegen die Strafe des Über-Ichs, allerdings ohne dass dem Handelnden dieser Zusammenhang bewusst wäre; und der psychoanalytische Begriff für ein derartiges Verhalten lautet: Zwangsneurose.
Zieht man nun in Betracht, dass unsere Kultur, wie gerade ausgeführt, die ›schmutzigen‹ Triebanteile des Menschen nicht mehr aufzufangen weiß, wird offenbar, dass die zunehmende Neurotisierung der Kultur mit deren Entritualisierung in einem Zusammenhang steht: Weil der Mensch selbst mit seinem Schmutz fertig werden muss, zelebriert er ihn ganz für sich allein in traurigen Zeremonien, die nicht Lust, sondern nur Unlust mit sich bringen; in Zeremonien, die das Leben nicht feiern, sondern in denen es, zumindest subjektiv, ums nackte Über leben geht – fürchtet doch der Zwangsneurotiker tatsächlich um sein Leben, sobald die Handlung einmal nicht in gewohnter Weise ausgeführt werden kann. »Das neurotische Zeremoniell besteht in kleinen Verrichtungen, Zutaten, Einschränkungen, Anordnungen, die bei gewissen Handlungen des täglichen Lebens in immer gleicher oder gesetzmäßig abgeänderter Weise vollzogen werden.« So schrieb Sigmund Freud Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Aufsatz Zwangshandlungen
und Religionsübungen . »Man kann die Ausübung eines Zeremoniells beschreiben, indem man es gleichsam durch eine Reihe ungeschriebener Gesetze beschreibt, also z. B. für das Bettzeremoniell: der Sessel muß in solcher, bestimmter Stellung vor dem Bette stehen, auf ihm die Kleider in gewisser Ordnung gefaltet liegen; die Bettdecke muß am Fußende eingesteckt sein, das Betttuch glattgestrichen; die Polster müssen so und so verteilt liegen, der Körper selbst in einer genau bestimmten Lage sein; dann erst darf man einschlafen. In leichten Fällen sieht das Zeremoniell so der Übertreibung einer gewohnten und berechtigten Ordnung gleich. Aber die besondere Gewissenhaftigkeit der Ausführung und die Angst bei der Unterlassung kennzeichnen das Zeremoniell als ›heilige Handlung‹. Störungen derselben werden meist schlecht vertragen; die Öffentlichkeit, die Gegenwart anderer Personen während der Vollziehung fast immer ausgeschlossen.«
Damit beschreibt Freud, was im 21. Jahrhundert immer normaler zu werden scheint: nämlich eine einsame Zelebration von Alltagshandlungen, die einer, wie Freud es nennt, »Privatreligion« gleichkommen. An die Stelle der kollektiven und öffentlichen Religionsausübung tritt zunehmend ein individueller, von der Außenwelt zumeist abgeschotteter ›Gottesdienst‹, dessen transzendenter Gehalt sich nur dem je Einzelnen erschließt. Das nimmt nicht selten auch extreme Formen an: Über eine Million Menschen begeben sich hierzulande mindestens ein Mal in ihrem Leben in ärztliche Behandlung, weil sie unter ihrem zwanghaften Verhalten leiden. Wie ferngesteuert müssen sie immer wieder dieselben Handlungen vollziehen, müssen sich ständig die Hände waschen, ihren Herd kontrollieren, können nur auf diesem und keinem anderen Stuhl sitzen etc. Das ist natürlich etwas anderes, als sich Morgen für Morgen das immergleiche Müsli und den
immergleichen Tee auf die immergleiche Weise zuzubereiten oder jeden Tag vor dem Abendessen exakt dieselbe Joggingstrecke abzulaufen. Aber wo hört das Ritual auf und fängt die Neurose an? »Zu Zwangshandlungen im weiteren Sinne können alle beliebigen Tätigkeiten werden, wenn sie durch kleine Zutaten verziert, durch Pausen und Wiederholungen rhythmiert werden«, schreibt Freud. »Eine scharfe
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