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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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Abgrenzung des ›Zeremoniells‹ von den ›Zwangshandlungen‹ wird man zu finden nicht erwarten.«
    Wenn ich diese oder jene Handlung nicht nach ganz bestimmten Regeln ausführe, so lautet die unbewusste Gewissensangst des Neurotikers, dann wird fürchterliches Unglück geschehen! Vergleichsweise harmlose Handlungen dieser Art kennt jeder: Nur wenn ich nicht auf die Ritzen zwischen den Gehsteigplatten trete, bekomme ich morgen die Zusage, klappt die Prüfung, liebt sie mich etc. Andere zählen Zaunpfähle oder Straßenlaternen, um sich zu beruhigen, und wieder andere klopfen jedes Mal mit dem Fuß auf, wenn die Tram eine Station erreicht. Die Regeln, die diesen Handlungen zugrunde liegen, stehen natürlich in keiner objektiv logischen Beziehung zu dem zu erwartenden Unheil, genauso wenig, wie dreistündiges Händewaschen wirklich eine Schuld bereinigen könnte. Der Zusammenhang von Neurose und Unheilserwartung ist vielmehr ein verschobener, ganz ähnlich, wie auch Traumbilder nur verschoben auf die unbewussten Ängste und Wünsche des Träumers hinweisen. Das wiederum heißt aber, dass Zwangshandlungen fürs Unbewusste durchaus einen Sinn ergeben – und aus diesem Grund sind sie für den Neurotiker so unerlässlich wie für einen religiösen Menschen das Beten. »Dem Schuldbewusstsein der Zwangsneurotiker entspricht die Beteuerung der Frommen, sie wüssten, daß sie im Herzen arge Sünder seien; den Wert von Abwehr- und Schutzmaßregeln
scheinen die frommen Übungen (Gebete, Anrufungen usw.) zu haben, mit denen sie jede Tätigkeit des Tages und zumal jede außergewöhnliche Unternehmung einleiten.«
    Dieser Glaube, dass nur ein immergleiches Zeremoniell das Unheil abwenden kann, wird durch unsere Kultur in vielerlei Hinsicht unterstützt – praktizieren wir doch allenthalben gewisse Handlungen, die bei näherem Hinsehen zwanghaft anmuten und dennoch auf dem Beipackzettel stehen. Nur wenn Sie unsere Antifaltencreme morgens und abends verwenden (Tipp: Reinigen Sie sich vorher Ihr Gesicht mit unserer Reinigungsmilch), sehen Sie an Ihrem nächsten Geburtstag nicht aus wie Keith Richards! Identifizieren Sie sich mit unserer Marke! Fühlen Sie sich unvollkommen, unrein und schlecht, wenn Sie einmal aus irgendeiner Not heraus ein anderes Produkt verwenden müssen! Rechnen Sie mit plötzlichen Hautveränderungen, die nichts anderes sind als die gerechte Strafe!
    Der moderne Mensch lebt ständig in der diffusen Angst, dass irgendetwas zum Vorschein kommt. Dieses ›irgendetwas‹ ist eine Triebregung, die zu unterdrücken und zu verdrängen unsere auf Selbstkontrolle gründende Kultur in einem immer stärkeren Maße gebietet und die, sobald sie sich bemerkbar macht, eine Unheilserwartung auslöst. Vergegenwärtigen wir uns diesen Zusammenhang im Folgenden an einem konkreten Beispiel, an dem Beispiel einer berufstätigen Frau, die am Abend vor einer wichtigen Projektpräsentation einen hässlichen Pickel, ein ›Riesending‹, in ihrem Gesicht entdeckt. Für was steht dieses ›Ding‹? Und warum kann die Frau nicht anders, als es zwanghaft anzustarren?

das wird ein riesending
Über weiblichen Ehrgeiz
    O nein… Da wird doch wohl nicht … Vorsichtig fährt sich die Frau mit der Fingerkuppe über die Wange. Doch. Tatsächlich. Eine Erhebung! Und bei dem kleinsten Druck ein stechender Schmerz tief im Gewebe … Ausgerechnet jetzt, einen Abend vor der Präsentation! Dabei hat sie sich so gründlich vorbereitet, ist vorhin zum hundertsten Mal alle Punkte durchgegangen, um auch noch den letzten Zweifler, und derer gibt es viele in der Firma, von ihrer Projektidee zu überzeugen. Das wird ein Riesending, sagt die Frau still zu sich selbst. Rot, schmerzhaft, eitrig. Und alle werden es sehen. Wie peinlich! Mit klopfendem Herzen eilt die Frau ins Bad, nimmt den Vergrößerungsspiegel zur Hand. Ein verheißungsvoller rötlicher Schimmer. Was tun? Eindämmen? Kommen lassen? Eigentlich sollte sie jetzt ins Bett gehen, es ist spät, aber der Vortrag, den sie am nächsten Morgen halten soll und auf den sie sich eigentlich schon richtig gefreut hat (endlich darf sie’s allen zeigen!), ist wie weggewischt. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt dem schändlichen Fleck mitten auf ihrer Wange, der ihr wie eine Strafe erscheint. Eine Strafe aber wofür?
    Gewiss: Sie kann, um sich aus der depressiven Stimmung zu retten, eine Tablette nehmen; und vielleicht hat sie sogar diese oder jene Tinktur im Schränkchen, mit deren Hilfe der ›Fleck‹

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