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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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aber eine Kultur ist, desto weniger orientiert sie sich an althergebrachten Ritualen, vorgegebenen Lebensrhythmen und festen Ordnungen. Das ist natürlich keineswegs nur negativ zu sehen: Wer sehnt sich schon nach unbequemen Sonntagskleidern, obligatorischen Frühmessen, verbindlichen Abendessenszeiten, Häuptlingen und Totemtieren zurück? Im modernen 21. Jahrhundert wollen wir selbst entscheiden, wann wir essen und was wir essen, wie wir unseren
Sonntag gestalten und wie unseren Alltag. Vielmehr noch: Können gemeinschaftsstiftende Rituale nicht sogar zutiefst besorgniserregend und entmündigend sein? Schließlich lebte nicht zuletzt der Nationalsozialismus von ekstatischen Gemeinschaftsgefühlen, die durch sorgsam durchgeplante Zeremonien erzeugt wurden. Je aufgeklärter eine Gesellschaft ist, desto weniger setzt sie auf Verzauberung als vielmehr auf Vernunft , auf die verantwortungsvolle Selbstbestimmung des je Einzelnen – und das ist zunächst einmal, als ein Ausdruck zunehmender Freiheit und Eigenverantwortlichkeit, durchaus positiv zu bewerten. Die Kehrseite dieser Entwicklung aber ist, dass es eben jene Zwischenräume, in denen der Mensch seine selbstkontrollierende Vereinzelung aufgeben, in denen er sich fallen lassen und trotzdem gehalten fühlen darf, immer seltener gibt. Momente der Feierlichkeit, der Ekstase, der Ruhe, die ehemals gesellschaftlich gewährleistet waren, verschwinden zusehends, im spätmodernen Zeitalter der Flexibilisierung können wir rund um die Uhr arbeiten, rund um die Uhr einkaufen, rund um die Uhr ins Internet. In immer stärkerem Maße ist der Mensch selbst dafür verantwortlich, wie er seine Zeit einteilt, wann er arbeitet, wann er konsumiert, wann er sich eine Pause gönnt, ob und wie er sich seine eigenen Rituale schafft. Klar definierte Feierabende und der ›heilige‹ Sonntag gehören der Vergangenheit an, wer sich Zeit nimmt und den lieben Gott, wie man sagt, einen guten Mann sein lässt, muss das vor seinem Gewissen rechtfertigen.
    »Der ehemals ekstatische Kollektivkörper, der sich in der räumlichen Verdichtung seiner spezifischen Körperlichkeit versichert und sich als zusammenströmendes und losbrechendes Kollektivwesen erlebt, wird abgelöst von abstrakt-anonymen Strukturen, die als vom Individuum immer schon antizipierte Steuerungs- und Regulationsmedien wirksam
werden«, schreibt die Soziologin Hannelore Bublitz. »Durch das Medium einer abstrakten ›Masse‹ gefiltert, werden die vereinzelten Individuen zu Voyeuren ihrer eigenen Existenz und unterliegen der reflexiv im Medium des Blicks auf ihr Innerstes gerichteten (Selbst-)Kontrolle, die sich als ständige Selbstprüfung ausweist.« Der zusammenströmende Kollektivkörper, von dem Bublitz spricht, gründet sich auf gesellschaftliche Verbote und Tabus, die gemeinschaftlich-ekstatisch zu überschreiten in bestimmten Momenten erlaubt war. Heute hingegen haben wir jene ›abstrakt-anonymen‹ Regeln, auf die sich unsere Kultur gründet, zutiefst verinnerlicht – an die Stelle des Kollektivkörpers ist das sich selbst kontrollierende Individuum getreten.
    Welche Auswirkungen diese Verlagerung des Verbots von außen nach innen hat, lässt sich an einem Beispiel gut verdeutlichen. Wie wir gesehen haben, wird der Verzehr des verbotenen Totemtiers in ›primitiven‹ Gesellschaften gemeinschaftlich zelebriert, und gerade im Akt der Überschreitung des kulturstiftenden Verbots fühlen sich die Menschen aufs Engste miteinander vereint – ja, je ekstatischer die Transgression, desto stärker das Gemeinschaftsgefühl. In säkularisierten Kulturen gibt es keine für alle verbindlichen Speiseverbote mehr, wohl aber individuell errichtete Essensregeln, die sich an Diätrichtlinien orientieren: Ob Kartoffeldiät, Glyxdiät, Zitronensaftkur oder Reisdiät: Die Regeln, was gegessen werden darf und was nicht, sind streng, und häufig entwickeln die Hungernden, in aller Regel sind es Frauen, eine ganz ähnliche Angst vor den tabuisierten Lebensmitteln wie der ›Primitive‹ vor dem Totemtier: O Gott, Butter! Nein, bloß keine Schokolade! Sollte das Diät-Totemtier dann aber in einer schwachen Minute doch verzehrt werden, in aller Heimlichkeit versteht sich, nagen die Schuldgefühle: Das Tabu wurde gebrochen, das streng Verbotene
einverleibt – und je exzessiver der Tabubruch, desto größer das Schuldgefühl.
    »Diese Kultur hat ein Problem mit dem alltäglichen Heiligen«, schreibt Robert Pfaller. »Ihr sind offenbar jene

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