Wir Genussarbeiter
ritualisierten Selbstfürsorge aber ist die gesellschaftliche Atomisierung: »Wenn man sich selbst die Ehrerbietung erweisen könnte, die man wünscht, dann könnte die Gesellschaft dahin tendieren sich in Inseln aufzulösen, bewohnt von einzelnen kultischen Menschen, jeder in ständiger Anbetung seines eigenen Schreins.« So schrieb der Soziologe Erving Goffman in den sechziger Jahren, nicht ahnend, dass die moderne Gesellschaft des 21. Jahrtausends einem Archipel gleichen würde. Dienten Rituale früher der Vergemeinschaftung, dienen sie heute eher der Isolierung des Einzelnen vom nervtötenden Rest: Wenn ich schon die ganze Woche über kommuniziere und funktioniere, dann will ich wenigstens am Wochenende meine Ruhe haben!
Rituale geben Orientierung, und sie geben Halt. Insbesondere in Phasen des Übergangs sorgen sie dafür, dass der Mensch sich nicht verliert und den Wechsel heil übersteht. »Veränderungen sind Störungen und Gefahren, die zu mildern oder zu verhindern es Übergangsrituale braucht«, meint
der Religionswissenschaftler Axel Michaels. Ob Hochzeit, Prüfung oder Sommersonnenwende, ob Arbeitsbeginn oder Arbeitsende, Tages- oder Jahreswechsel: Durch Rituale werden Phasenumbrüche markiert und auf beruhigende Weise reglementiert. »Das Feierabendbier zwischen fünf und sechs«, so der Schriftsteller Peter Bichsel, »war eingebettet in ein Ritual«, man traf sich an einem bestimmten Ort, trank eine Stunde lang und wechselte gemeinsam über vom Arbeits- in den Freizeitmodus. Diesen Zweck erfüllt heute (neben Badewanne und Individualsportart) die Vorabendserie. Ab kurz nach fünf wird bei der Arbeit nervös auf die Uhr geschaut und, sofern sich das Gespräch mit der Kollegin nicht rechtzeitig abwürgen lässt, im Auto ordentlich aufs Gas getreten. Zu Hause das immergleiche Schmieren von Broten in der Küche (denn genossen werden kann die Serie aus irgendeinem Grund nur kauend), jetzt noch die Kissen (das große hinten, das kleine vorn) zurechtrücken, Handy stumm stellen, Vorhänge zu, Füße hoch. Ein hektischer, fast ängstlicher Rundumblick: Ist alles so, wie es sein soll? Habe ich an alles gedacht? Mechanischer Griff zur Fernbedienung. Für eine Zehntelsekunde der panische Gedanke: Oh Gott, wenn jetzt der Fernseher nicht funktioniert! Was wäre mein Feierabend ohne Sex and the City ? Ein gähnendes Loch. Die totale Sinnlosigkeit. Fast zittrig drückt der Daumen den kleinen roten Knopf. Der Bildschirm fiept, aus schwarz wird bunt, da sind sie, die vertrauten Bilder, die vertraute Melodie. Sofort lässt die hochgesteigerte Erregung nach, die Glieder entspannen, als tauchten sie in warmes Badewannenwasser ein. Alles ist gut.
Ritualisierte Handlungen, so Christoph Wulf und Jörg Zirfas in ihrem Buch Die Kultur des Rituals , »rahmen spezifische Praktiken im alltäglichen Leben so, dass durch ihre Restriktivität … unbestimmtes in bestimmtes Verhalten transformiert
wird. In diesem Zusammenhang bilden Rituale einen relativ sicheren, homogenisierten Ablauf. Die mit ihnen verbundenen Techniken und Praktiken dienen der Wiederholbarkeit der notwendigen Vollzüge, ihrer Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit …« Alltagsrituale haben also durchaus auch eine ganz pragmatische Funktion: Wer Rituale hat, spart sich Zweifel, denn es muss nicht jedes Mal wieder neu überlegt werden, ob man morgens beim Bäcker Mohnbrötchen oder Croissants bestellt, ob nach Feierabend Sport getrieben wird und am Mittwoch die Lieblingsserie auf dem Programm steht. Und natürlich hilft die Automatisierung der Handlung dabei, sie einigermaßen zügig zu vollziehen: Wer jeden Morgen Müsli isst, bereitet es routinierter zu als jemand, der das nur ausnahmsweise tut; ganz abgesehen davon, dass der Ritualmüsliesser peinlichst darauf achtet, dass immer alle Zutaten vorhanden sind, während der Ab-und-zu-Müsliesser womöglich erst noch zum Supermarkt laufen muss. Doch Vorsicht: Das Ritual ist mehr als einfach nur Routine! Die Routine ist profan, das Ritual dagegen heilig. Ihm wohnt Feierlichkeit inne. Und genau diese Feierlichkeit ist es auch, die Ritualmenschen so beneidenswert macht: Indem sie Alltagshandlungen ritualisieren, machen sie aus ihnen etwas Außergewöhnliches. Sie verleihen ihnen einen Wert, man möchte fast sagen: einen metaphysischen Glanz, wie man ihn sonst nur aus religiösen Praktiken kennt. Das an sich Profane (Brot und Wein) wird in Sakrales verwandelt, indem man es einbettet in ein Zeremoniell, der Ritualmensch
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