Wir Genussarbeiter
zurück zur Aufklärung – denn es gibt womöglich noch einen weiteren Grund, weshalb ihre Grundsätze derzeit in so auffälliger Weise als Legitimation für enthemmtes Konsumverhalten herangezogen werden. Um die Menschen von der Gier abzuhalten, musste sich die Kultur seit jeher etwas einfallen lassen – und bis zur Aufklärung hieß die Lösung schlicht und einfach: Gott. »Seht zu und hütet euch vor dem Geiz; denn niemand lebt davon, daß er viele Güter hat«, steht im Lukasevangelium geschrieben, und im Epheserbrief heißt es: »Denn ihr sollt wissen, dass kein Hurer oder Unreiner oder Geiziger, welcher ist ein Götzendiener, Erbe hat
in dem Reich Christi und Gottes.« Die stets dräuende Strafe Gottes respektive die Verheißung auf jenseitiges Heil waren es, die den Menschen von gierigem Verhalten (zumindest wenn er gottesfürchtig war) absehen ließen. Später dann, nachdem die Menschen sich im Zuge der Aufklärung aus ihrer religiösen Unmündigkeit befreit hatten, übernahmen Morallehren jene Aufgabe, die vormals die Religion innehatte. »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«, so versuchte etwa Immanuel Kant die Menschen zu moralischem Handeln anzuhalten. Kann die Gier zu einem allgemeinen Gesetz werden? Wohl kaum. Denn wenn alle nur gieren und raffen und schlingen, entzieht sich eine Kultur selbst ihre Grundlage, die doch gerade darin besteht, dass die Menschen ihre Begierden hemmen und in Arbeit sublimieren. Letztendlich aber war ein strafender Gott effektiver als der Kategorische Imperativ Kants. Denn warum sollte der einzelne Mensch überhaupt ein Interesse am Wohlergehen der Gesellschaft haben? Wenn ich nur geschickt genug bin: Kann ich dann nicht gierig sein, ohne dass die anderen es merken? Und womöglich verhalten sich die anderen ja heimlich auch unmoralisch? Warum also soll ausgerechnet ich moralisch sein? Ich bin ja nicht blöd!
»Die Morallehren der Aufklärung zeugen von dem hoffnungslosen Streben, an Stelle der geschwächten Religion einen intellektuellen Grund dafür zu finden, in der Gesellschaft auszuhalten, wenn das Interesse versagt«, schreiben Horkheimer und Adorno. So betrachtet war es nur eine Frage der Zeit, bis an die Stelle des Kantischen Imperativs der Befehl Sei geizig! treten würde. Derart selbstgerecht und wütend wird dieser Befehl in der Werbung verkündet, ja, wird er von Maschinenfrauen regelrecht herausgeschrien, als habe es nie einen Glauben an Gott, nie Todsünden und nie eine jahrtausendealte
Debatte um moralische Grundsätze gegeben. Haben wir vielleicht tatsächlich keinen Begriff von Schuld mehr?
Das ist allerdings kaum möglich – denn die unstillbare Gier nach Mehr, das zwanghafte Genießen, ist überhaupt nur denkbar vor dem Hintergrund eines Verbots, das im Akt des Genießens überschritten wird (vgl. »Das genießende Arbeitstier«). Das Tier kennt keine Gier, und es kennt auch keinen Genuss. Gierig ist nur der Mensch, denn nur er ist, als Kulturwesen, zu Triebverzicht angehalten und entwickelt demzufolge eine umso größere Lust auf alles, was ihm verboten ist. Der provokative Reiz von Werbesprüchen wie »Geiz ist geil!« liegt ja in der Tat genau darin, dass sie an den Grundfesten der Zivilisation rütteln, an fundamentalen Regeln, die für menschliches Zusammenleben seit jeher gelten. In seinem Fragment Kapitalismus als Religion vertritt der Philosoph Walter Benjamin entsprechend die These, dass der Kapitalismus, gerade weil er diese Regeln durchbricht, zutiefst durchdrungen sei von einem Schuldbewusstsein; und weil er nicht mehr weiß, wie er seine Schuld überhaupt noch sühnen soll, tritt er gewissermaßen die Flucht nach vorn an. Benjamin schreibt: »Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen, dem Bewusstsein sie einzuhämmern und endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld mit einzubegreifen, um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu interessieren.« Der Kapitalismus, so Benjamin, ist der einzige Kult, der nicht ent schuldend, sondern ver schuldend ist. Er will so viel Schuld anhäufen, bis sogar Gott in dem Haufen unterzugehen droht und sich im letzten Augenblick doch noch zur Entsühnung entschließt: »Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der Kapitalismus ist, das Aushalten bis ans Ende, bis an die endliche völlige Verschuldung
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