Wir haben keine Angst
wir
sind
. Es geht um nichts Geringeres als unseren eigenen, riesigen, erdrückenden Anspruch herauszufinden, was und wer genau zu uns passt. Was und wen wir
brauchen
, damit unser Glück, damit wir
perfekt
werden.
*
Anna schaut an die sternenlose Decke ihres Hotelzimmers. Eben gerade war sie noch stockbesoffen. Aber irgendwie fühlt sie sich jetzt, im ruhigen Raum abseits der Feiergesellschaft, plötzlich wieder ganz nüchtern.
Anna ist nackt, bis auf ihr cremefarbenes Spitzenhöschen. Ihre Frisur ist noch hochgesteckt, alles andere hat sie von sich geworfen, ihr Rock liegt auf dem Boden, die Strumpfhose, das Oberteil. Ihre Kleidung ergibt einen Pfad von der Tür zum Bett. Es sieht aus, als habe sie jemand wild ausgezogen und auf die Matratze geworfen. Dabei war sie es selber.
Die Hotelzimmerdecke wiegt sich sanft hin und her. Seegang, denkt Anna. Vielleicht ist sie doch noch ein bisschen betrunken. Mit geschlossenen Augen lässt sie den Tag der Hochzeit clipartig Revue passieren. Es war schrecklich. Von der ersten Sekunde bis zum letzten Moment. Einfach ein zu großes, überfrachtetes Fest der Romantik, der maßlos übertriebenen, kitschig inszenierten Zweisamkeit. Annas Gesicht ist ganz verspannt vom ewigen Dauerlächeln. Sie macht den Mund weit auf und wieder zu. Ihre Kieferknochen knacken. Für sie war das heute das ultimative Fest der Einsamkeit.
Anna ist seit einem halben Jahr wieder Single. Es kommt ihr vor wie eine Ewigkeit. Wenn sie wollte, könnte sie diesen Zustand natürlich sofort ändern. Die Männer liegen ihr zu Füßen. Für sie stellen sie sich alle auf den Kopf. Das war schon immer so.
Aber Anna ist daran gewöhnt, Möglichkeiten an sich vorüberziehen zu lassen: Die Männer, die sie auf dem Weg zur Arbeit verfolgen, die Männer, die ihr in der Bahn ihre Visitenkärtchen zustecken, die Typen, die sie bei Facebook anschreiben. Ihren Masseur, der sie jedes Mal, wenn sie halbnackt auf den heißen Fango-Packungen liegt, zum Kaffee überreden will, ihren Nachbarn, der mittlerweile ein bisschen sehr oft klingelt, weil ihm sein Mehl ausgegangen ist. Und natürlich all diejenigen, die sie bei der Arbeit trifft. Wegen denen ihre Chefin jedes Mal noch die zweite SMS schreibt, wenn sie sich nach dem Verlauf eines Kundentermins erkundigt: » PS : Wie viele Herzen hast du heute wieder gebrochen?«
Natürlich spürt Anna die Blicke, sie ist ja nicht blöd. Und es ist nicht so, als würde sie sie nicht genießen. Sie genießt sie. Nur hat sie oft das Gefühl, dass all diese Männer gar nicht
sie
sehen. Sondern nur eine erfolgreiche, hübsche, schlagfertige, atemberaubende Hülle von ihr. Die sie ja auch ist beziehungsweise besitzt. Aber eben nicht nur. Eigentlich sucht Anna nämlich einfach nur jemanden, der genau das kapiert. Jemanden, der einfach nur neben ihr auf dem Sofa unter der Bogenlampe liegt und der sie dort in Schlabberjeans ebenso oder sogar noch mehr liebt als aufgebrezelt für irgendeine Präsentation oder ein Business Dinner.
Felix war so jemand. Der Typ, der letztens vor Herr G.s Praxis stand, hat Anna an ihn erinnert. Die beiden hatten irgendwie denselben Blick, dieses kindliche Blitzen in den Augen. Und dieselben Grübchen.
*
Herr G. schließt das Fenster zur Straße.
»Würden Sie sagen, dass Sie sich einsam fühlen?«, will er von Bastian wissen.
Bastian zuckt mit den Schultern. Er verzieht den Mund nach unten.
»Nö.«
Herr G. nickt. Er sieht Bastian freundlich an. »Wie lange dauerte Ihre längste Beziehung?«
Bastian rechnet. »Puh, … ein Jahr vielleicht? Allerhöchstens. Länger ging’s nie. Da scheint’s bei mir so ’ne Art magische Grenze zu geben.« Er zuckt erneut mit den Schultern. »Is’ halt so.«
Im Moment ist Bastian Single. Er versucht gerade, eine kleine Pause zu machen. Pause vom Beziehungsstress, Pause vom ewigen Heckmeck, vom ständigen Hin und Her. Von der ganzen Herzscheiße. Ein Vierteljahr hält diese Pause jetzt schon an. Es kommt Bastian vor wie eine Ewigkeit. Wenn er wollte, könnte er diesen Zustand natürlich sofort ändern. Möglichkeiten hat er schließlich genug. Das war schon immer so. Und normalerweise nutzt er sie auch. Seit Bastian denken kann, ist sein Weg gepflastert mit verknallten Mädchen und gebrochenen Frauenherzen. Keine schönen Geschichten waren das. Vor allem die letzte nicht, mit Hannah.
Das Mädchen, das letzte Woche vor Herr G.s Praxis stand, hat Bastian ein wenig an Hannah erinnert. Sie hatte irgendwie dieselbe
Weitere Kostenlose Bücher