Wir haben keine Angst
ich dann weniger denken. Und zur Abwechslung einfach mal zufrieden sein.«
Herr G. schnaubt.
»Meinen Sie, das würde Sie glücklich machen?«
»Keine Ahnung«, seufzt Anna, »Vermutlich nicht. Ich hab ja eigentlich vor allem Angst. Oben sein, oben bleiben, abrutschen, Mitte sein, unten sein, raus sein. Eigentlich ist alles falsch.«
Herr G. schnaubt erneut.
Anna grinst breiter, sarkastisch.
»Wir müssen Sie wirklich fertigmachen, oder?«, sagt sie und schaut Herrn G. mitleidig an. »Wir gestörten Stressmenschen mit unseren Luxusproblemen. Denen es eigentlich so verdammt gut geht. Sonntagmorgen zum Beispiel ging’s mir total gut! Und trotzdem müssen Sie uns bestimmt noch bis an Ihr Lebensende ertragen.«
Herr G. deutet auf die Uhr.
»Bis nächste Woche«, sagt er höflich.
Vor der Praxis steht Bastian. Er hat es zum ersten Mal geschafft, pünktlich zu kommen. Anna lächelt ihn flüchtig an. Bastian lächelt zurück. Die beiden kommen sich bekannt vor. Anna hält Bastian die Tür auf. Bevor sie zufällt, schauen sich beide noch einmal um.
Heidi steht vor dem Jury-Tisch. Sie hat die Haare streng nach hinten gebunden, ihre Augenlider schimmern golden, auf ihrem knappen Kleid glänzen tausend Pailletten. Sie sieht aus wie ein unwirklicher Glitzerengel.
Es ist der letzte Entscheidungstag. Heidi schaut Anna streng an. Es ist diese aufgesetzte Strenge, die sich Heidi nur für ihre Favoriten aufspart. Hinter ihrem Rücken hält sie ein Plastikflugzeug. Das Symbol dafür, dass es von L.A. heute für Anna direkt zurück nach Germany gehen wird, nach Köln, in die Sporthalle, zum Finale.
Gleich wird sie Anna das Flugzeug überreichen. Die Spannung, die jetzt gehalten wird, ist nur noch Show für den Zuschauer. Anna ist trotzdem nervös.
»Anna«, sagt Heidi bedrohlich, als verlese sie ein Todesurteil, »wochenlang hast du einhundertfünfzig Prozent gegeben. Du hast jede Challenge gewonnen. Anna, du hast erreicht, wovon die anderen Mädels nur träumen können.«
Anna lächelt schüchtern.
»Nur deine Augen, Anna, sprechen manchmal eine andere Sprache. Anna, wir haben dir jede Woche gesagt, dass du nicht so ängstlich gucken darfst. Noch merken nur wir das, aber auf Dauer wird der Kunde das auch sehen.«
Heidi verlangsamt ihre Stimme bis zur Unerträglichkeit.
»Deshalb will ich wissen und ich frage dich jetzt ein letztes Mal, Anna.« Heidi dreht sich in Zeitlupe in eine andere Kamera. »Anna, bist du dir sicher, dass du hier gewinnen willst? Willst DU ins FINALE ?«
Anna lächelt.
»Anna, willst DU Germany’s Next Selbstverwirklicher werden?«, fragt Heidi, ihre Stimme wackelt in bedrohlichen Sphären.
Anna schaut ihr fest in die Stahlaugen. Ganz so, wie sie es im Workshop gelernt hat.
»Ja«, sagt sie mit klarer Stimme, »ja, das will ich. ICH will Germany’s Next Selbstverwirklicher werden. Und ich werde ALLES dafür geben.«
Liebe:
Die Angst vor dem verlorenen Ich
Im Zweifel für den Zweifel
Und für die Pubertät
Im Zweifel gegen Zweisamkeit
Und Normativität
Tocotronic, »Im Zweifel für den Zweifel«
Wir alle glauben noch an die Liebe. Selbst, wenn wir oft genug nüchtern und abgeklärt das Gegenteil behaupten. Oder sie zumindest nicht mehr unbedingt »die große Liebe« nennen würden. Denn uns ist natürlich bewusst, wie irrsinnig naiv unser romantischer Glaube an die ewige, glückliche Zweisamkeit mittlerweile geworden ist. Wir müssten uns schon sehr große Scheuklappen aufsetzen, um auszublenden, wie rechts und links von uns permanent aneinander gezweifelt, einander betrogen, sich getrennt und neu zusammengefunden wird. Wir wissen selber nur zu gut, wie unwahrscheinlich es ist, dass es gerade bei uns auf Dauer anders laufen könnte.
Doch irgendwie glauben wir eben immer noch, dass es klappen kann. Dass man es schaffen kann. Dass man für immer mit dem einen Jemand, den man liebt, zusammenbleiben kann. Wenn man vielleicht nur ein bisschen seine Ansprüche und Erwartungen herunterschraubt. Wenn man vielleicht nur ein bisschen im Kopf behält, dass keine Beziehung und kein Mensch perfekt ist. Und man selber schon gar nicht.
Dummerweise haben wir in den letzten Jahren aber leider genau das Gegenteil getan. Wir haben unsere Erwartungen immer höher gesteckt. An den anderen, ans Zusammensein. Und an uns selbst. Denn wie bei allem anderen in unserem Leben geht es auch bei der Wahl unseres Partners schließlich um nichts Geringeres als um das, was wir
wollen
, um das, was
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