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Wir haben keine Angst

Wir haben keine Angst

Titel: Wir haben keine Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauer Nina
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auszubalancieren. »Und das obwohl ich eigentlich mitten in ’ner wichtigen Hausarbeit stecke. Ist das nichts, oder was?«
    »Ach, vergiss es, Basti«, seufzt Michi durch die schlechte Verbindung, »Bis gleich. Ich hol dich ab. 19:27. Ich warte unten.«
    Bastian legt auf, ohne zu antworten. Nicht nur die Camouflage-Jungs sind heute gen Heimat unterwegs, sondern auch er. Und wenn sein blöder Bruder nicht wäre, würde er sich sogar richtig darauf freuen.
    *
    Herr G. kehrt mit drei kleinen Kissen unterm Arm ins Zimmer zurück. »Ich sag Ihnen nur vorneweg schon mal«, hatte Bastian gleich am Anfang der allerersten Sitzung klargestellt, »ich werde keine verdammte Familienaufstellung mit Ihnen machen. Und auch keine Rollenspiele. Ich werde mich nicht von Ihnen hypnotisieren lassen, kein Traumtagebuch schreiben, keinem Pendel mit meinen Augen folgen, um herauszufinden, wann
genau
ich vom Wickeltisch gefallen bin, und auch keine Übungen veranstalten, in denen ich das Kind in mir umarme oder so ’n Scheiß. So was müssen Sie mit anderen machen.«
    Bei Patienten wie Sebastian würde Herr G. es mit solchen Therapiepraktiken gar nicht erst versuchen. Aber Anna ist ein anderer Fall. Automatisch steht sie auf, als Herr G. den Raum betritt.
    »So«, sagt er und reicht ihr ein Kissen. »Das sind Sie.« Er deutet auf die zwei anderen kleinen runden Polster. »Und das«, er drückt sie ihr in die Hand, »sind Ihre Mutter und Ihr Vater.«
    Diesmal zieht Anna beide Augenbrauen gleichzeitig hoch. »Aha«, sagt sie und hält den kleinen Kissenstapel wie ein Tablett auf den Armen. »Na dann.«
    *
    Bei unseren Eltern können wir uns jederzeit verkriechen. Wann immer wir kriseln oder kränkeln, ist unser altes Zuhause bei ihnen der ultimative Fluchtpunkt vor uns selbst. Denn er bietet uns den Schutz einer sicheren Höhle, in der wir zuverlässig die Auszeit finden, die wir brauchen. Es gibt dort nämlich irgendwie keine Zeit. Oder sie scheint einfach stillzustehen.
    Nahezu magnetisch zieht es uns deshalb regelmäßig, wenn wir dringend Ruhe benötigen – um nachzudenken, auszuschlafen, Abschlussarbeiten, Bewerbungen oder Trennungsbriefe zu Ende zu schreiben –, zurück in unsere alten Kinderzimmer. Dort sind wir abgeschottet von allen kleinen und großen Störfaktoren, die uns das Leben sonst so schwermachen. Wir sind stets willkommen, weshalb meistens, wenn wir aufkreuzen, das Bett schon präventiv für uns bezogen ist. Außer unseren Eltern rückt uns dort niemand auf die Pelle, wir können bleiben, so lange wir wollen, und kommen und gehen, wann und wie wir lustig sind. Es ist immer warm, der Kühlschrank immer voll und das Klopapier nie alle. Kurz: Es ist ein Ort, an dem wir uns um rein gar nichts kümmern müssen. Ein heilsames Außerhalb im Inneren unserer hektischen Leben.
    Alles, was wir tun müssen, um zu ihm zu gelangen, ist, bei unserem eigenen Namen zu klingeln – und uns dem Fluss der Vertrautheit hinzugeben.
    *
    Michi steht schon am Bahnsteig. Er winkt. Bastian sieht sofort, dass sein Bruder sich längst wieder beruhigt hat. Wie alle anderen aus der Familie kann auch Michi nie länger als fünf Minuten auf Bastian böse sein.
    Er umarmt Bastian flüchtig. »Komm, ich steh im Halteverbot.«
    Während Michi aufzählt, wer gleich alles beim Sektempfang erwartet wird, fummelt Bastian am Radio herum. »Du kannst dir ja vielleicht gleich noch ein Hemd von mir anziehen und dann ein bisschen mit den Getränken helfen?«
    Bastian nickt. »Geht’s den Alten gut?«, fragt er.
    »Ja«, sagt Michi und greift mit der rechten Hand auf die Rückbank, um den Blumenstrauß, auf den Bastian seine Tasche geschmissen hat, weiter in die Mitte zu schieben, damit er nicht verknickt. »Die freuen sich halt irre, dass du da bist.«
    Bastian nickt. »Ich mich auch.«
    *
    Unser altes Zuhause bei unseren Eltern ist allerdings auch kein Hotel Mama. Zwar genießen wir dort meistens und ungefragt Vollpension inklusive All-You-Can-Eat-Option. Aber unsere Mütter und Väter sind alles andere als nur platte Bekümmerer für uns. Sie bedeuten uns viel, viel mehr als das.
    Seit Jahren gehören sie zu unseren engsten Freunden. Oder zumindest zu den Menschen, die uns am besten kennen. Die darüber hinaus eben noch der kleine Spezialstatus mit uns verbindet, dass sie uns großgezogen haben.
    Ob unsere Eltern dieses innige Verhältnis, das wir heute mit ihnen haben, von vornherein so geplant hatten, als sie uns bekamen, wissen wir nicht. Vermutlich

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