Wir haben keine Angst
wollten sie einfach nur alles richtig machen. Vermutlich wollten sie einfach, dass wir es leichter hätten als sie früher. Sie wollten uns einfach nur gute Eltern sein. Und dabei um keinen Preis die Fehler wiederholen, die ihre eigenen Eltern begangen haben. Sie wollten einfach nur, dass wir sie mochten. Und dass wir uns nicht von ihnen würden freikämpfen müssen, um unseren eigenen Weg zu gehen.
Das haben sie geschafft. Unsere Eltern sind weder spießig noch autoritär. Sie haben uns nie das Gefühl gegeben, etwas aus reiner Willkür oder Machtausübung zu verbieten, sondern uns immer alles pädagogisch wertvoll erklärt. Schon als kleine Menschen haben sie uns ziemlich ernst genommen und uns wie mündige Gegenüber behandelt. Und sie haben auch nie Hitler gewählt.
Mit unseren Eltern konnten wir bereits zu Oberstufenzeiten bei gutem Rotwein versacken. Sie waren es, die uns als Erste über Betäubungsmittelverstöße und Verhütung erzählt und bis zum bitteren Ende mit uns fürs Abi gelernt haben. Nach dem Zusammenbruch unserer ersten Liebe konnten sie uns glaubhaft machen, dass das Leben weiterginge. Wenn wir krank waren, sind sie immer vorbeigekommen oder haben uns Care-Pakete geschickt. Ihre waren die härtesten Nachtschichten beim Korrekturlesen unserer Magisterarbeiten. Und auch bei unseren allernervigsten Umzügen haben sie uns noch immer geholfen. Und dabei am Ende sogar ohne allzu viel Murren akzeptiert, dass wir ihre Keller und Dachböden mit unserem alten aussortierten Krempel zustellten.
Als Gegenleistung erwarteten unsere Eltern dafür von uns nichts. Höchstens vielleicht, dass wir uns frei entfalten und innerhalb der uns gegebenen Möglichkeiten versuchen sollten, glücklich zu werden. Sie, so gaben sie uns stets doppelt und dreifach zu verstehen, würden uns dabei selbstverständlich helfen, wo immer sie konnten.
Und es stimmt: Bis heute bilden unsere Eltern den treuesten Fanclub, den man sich vorstellen kann. Sie finden, dass sich das ganze Vorlesen und der Kauf naturtrüber Biosäfte, das Reisen- und Klavierstundenbezahlen gelohnt hat. Sie finden uns so richtig klasse.
Aber nicht nur sie sind Fans von uns geblieben. Sondern wir auch von ihnen. Denn abgesehen von familienspezifischen Konflikten, langwierigen Scheidungsabwickelungen, individuellen Charakterfehlern und Gestörtheiten, die nun mal jeder hat, finden wir unsere Mütter und Väter objektiv, also als Menschen, unglaublich in Ordnung. Sie lassen uns aber auch einfach keine Wahl, so unfassbar nett, hilfsbereit und liebenswert, wie sie sind.
Das soll auf keinen Fall heißen, dass wir automatisch alles gut finden, was sie tun. Und natürlich können sie manchmal auch tierisch anstrengend sein und uns furchtbar auf die Nerven gehen. Aber im Großen und Ganzen können wir eben gar nicht anders, als sie zu den Menschen zu zählen, zu denen wir wirklich aufschauen und die wir am meisten bewundern.
Anders als sie in unserem Alter fragen wir uns deshalb auch nicht »Was würden meine Eltern tun?«, um daraufhin das genaue Gegenteil zu tun. Wir fragen uns, was sie täten, um sie zu imitieren. Denn obwohl wir schon ziemlich früh gecheckt haben, dass Nachmachen irgendwie uncool ist, sind wir alle auf dem besten Weg, die Nachmacher unserer Eltern zu werden. Noch immer und immer mehr definieren wir unser Leben von dem aus, was wir von ihnen gelernt, von dem, was wir uns bei ihnen abgeguckt haben. Wenn wir sie nicht einfach gleich direkt anrufen. Um uns anzuhören, was sie meinen, was wir tun sollen, wie sie sich in unserer Lage verhalten oder welches Sofa sie an unserer Stelle kaufen würden.
Ja: Unsere Eltern sind unsere absoluten Vorbilder.
Und ja: Wir wollen genau so sein wie sie. Wir geben es ja zu.
*
»Ich mache Ihnen hier mal ein bisschen Platz«, sagt Herr G. und schiebt seinen Stuhl vors Bücherregal. Anna nickt. Etwas ratlos steht sie in der Mitte des Zimmers herum.
»Legen Sie sich doch bitte erst einmal selbst auf den Boden«, auf dem Teppich kniend entfriemelt Herr G. jetzt umständlich das Lampenkabel, das sich um ein Stuhlbein gewickelt hat. »Also, Ihr Kissen, meine ich. Legen Sie das bitte als Erstes auf den Boden. Und dann positionieren Sie zuerst das Vater-Kissen und dann das Mutter-Kissen so nah oder fern, wie Sie Ihre Beziehung zu diesen Personen empfinden.«
Anna nickt. Herr G. sieht es nicht. Er hängt noch immer unter seiner Lampe fest. Unschlüssig knetet Anna auf den Kissen in ihrer Hand herum. Herr G. wirkt auf
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