Wir haben keine Angst
einmal so überraschend dreidimensional. Kniend und krabbelnd und umherlaufend, überhaupt: sich bewegend, sieht er so anders aus, als wenn er Anna wie sonst einfach nur gegenübersitzt.
Anna lässt ihr erstes Kissen einfach dort fallen, wo sie gerade steht. Gedankenverloren zupft sie an dem zweiten in ihrer Hand herum. Sie muss an Wolfgang denken. Sie fragt sich, was für einen Spruch er wohl jetzt wieder aus seinem Kopf kramen würde, wenn er wüsste, dass er sich genau in diesem Moment in ein Vater-Kissen verwandelt hätte. Was auch immer er dazu sagen würde, es wäre sicher derartig ironisch und vernichtend, dass sie sofort loslachen müsste. Denn egal, wie Anna drauf ist, ihr Vater schafft es jedes Mal, dass seine Tochter wieder lächelt. Und sich die Dinge, wenn alles blöd ist, für sie auf einmal doch wieder ein kleines bisschen leichter anfühlen.
So wie gestern zum Beispiel.
Anna beugt sich zum Boden hinunter. Sie legt das Vater-Kissen direkt hinter ihr eigenes.
*
Eigentlich hatte Anna ihren Eltern gestern absagen wollen. Es war ein furchtbar anstrengender Tag in der Agentur gewesen, Anna hatte seit vier Tagen kaum oder nur schlecht geschlafen, sie hatte deshalb schon morgens Kopfschmerzen bekommen, die Paracetamol hatten nicht wirken wollen, ihr Nacken wurde von Stunde zu Stunde verspannter, und ihre Augen taten vom Starren auf den Computer weh.
Ihre Chefin hatte die letzte Präsentation, für die Anna mitverantwortlich war, am Morgen kritisiert. Zwar nicht wegen Anna, aber sie hing mit drin. Anna hatte deshalb die Mittagspause gestrichen und beschlossen, ihre gefühlten Minuspunkte damit zu kompensieren, die kurz vor Feierabend noch überraschend hereingeflatterte Arbeit von einem neuen Kunden so weit fertig zu machen, dass sie noch vor zehn Uhr abgeschickt werden konnte.
»Cia-ao«, hatte ihre Chefin Anna vom Flur in die Teeküche zugeflötet, als sie in den Feierabend verschwunden war. Während sie auf die vor sich hingurgelnde Espressomaschine gewartet hatte, hatte Anna am Datum auf dem Wochenplan gesehen, dass sie heute auf den Tag genau ein Jahr mit Felix zusammen gewesen wäre. Ihr war schwummerig geworden. Sie hatte ihren Espresso in die Spüle gekippt und sich zurück zum Schreibtisch geschleppt. Sie würde das Treffen mit ihren Eltern eindeutig canceln müssen.
»Wenn du magst, können wir nach dem Kino noch einen Schluck bei uns trinken? Freuen uns! ☺ Kuss, Mama«, schrieb Ulrike gerade in dem Moment, in dem Anna zum Hörer greifen wollte. Anna dachte an die Dreiviertelstunde, die sie mit der Bahn an den Stadtrand brauchen würde, bis zum Haus ihrer Kindheit, in dem ihre Eltern immer noch wohnten.
Geistesabwesend kratzte sie mit dem Nagel ihres Zeigefingers den Dreck aus den Zwischenräumen ihrer Tastatur. Sie schaute auf die Uhr. Wenn sie sich jetzt noch eine Stunde reinhängen und die Bahnfahrt über arbeiten würde, wäre das Kino mit ihren Eltern vielleicht ja doch noch drin. »Freu mich auch, ihr zwei, bis gleich«, schrieb sie zurück und durchkramte die Schublade der Praktikantin nach einer Aspirin. Ihr Kopf zersprang.
Wolfgang und Ulrike hatten schon vor dem Kino gewartet. Annas Mutter winkte schon von weitem. »Huhu, hier!«, hörte Anna sie rufen. Sie winkte zurück. Ganz plötzlich spürte sie einen Kloß im Hals. Sie schluckte. Doch je näher sie ihren Eltern kam, desto größer wurde er.
»Na?«, lächelte Wolfgang, als Anna die beiden erreicht hatte. Die Crumpler-Tasche, die Anna ihm zu Weihnachten geschenkt hatte und die er seitdem zu jeder Vorlesung an der Uni mitnahm, baumelte lässig über seiner Schulter. Wolfgang ließ sie fallen, um seine Tochter zu begrüßen. »Hallo, Linchen.«
»Hey«, sagte Anna matt und umarmte beide ihrer Eltern gleichzeitig.
Irgendwann in der Zeit nach der Grundschule, ungefähr dann, als Anna angefangen hatte, ihre Eltern Mama und Papa zu nennen statt nach ihren Vornamen, wie es ihr aus irgendwelchen antiautoritären Gründen die ersten Jahre ihrer Kindheit antrainiert worden war, hatte Annas Vater damit begonnen, Anna, inspiriert von dem Buch über die Kinder aus der Krachmacherstraße, das er ihr früher vorgelesen hatte, Krachelinchen zu nennen.
Anna löste sich aus der Umarmung. »Wir haben jetzt noch keine Karten geholt, weil wir nicht wussten, welchen Film du lieber sehen möchtest«, erklärte Ulrike. Sie strahlte Anna an. Ihr neuer Lippenstift stand ihr blendend. Durch den Wind roch Anna ihr vertrautes Parfum.
Anna
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