Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
tot?«
»Natürlich nicht tot!« erwiderte Erda in entschiedenem Ton. »Die existieren einfach nicht mehr. Ich würde das an Ihrer Stelle gar nicht so tragisch nehmen. Im Grunde sollten Sie sogar sehr zufrieden mit sich sein. Hat Ihnen Floßhilde übrigens schon erzählt …«
»Ja, ja, hat sie.« Malcolm versuchte, sich an das Aussehen von Ortlinde zu erinnern, doch merkwürdigerweise gelang ihm das nicht mehr. Er hatte das Gefühl, mitten in einem seltsamen und wunderlichen Traum aufgewacht zu sein. Alle die vollkommen realen Bilder, die ihm gerade eben noch vorm geistigen Auge gestanden hatten, schienen ihm wie Wasser, das man in den Händen zu halten versucht, durch die Finger zu rinnen.
»Ich kann Ihnen versichern, daß Sie in keiner Hinsicht irgend jemanden getötet haben«, beruhigte ihn Erda.
»Das habe ich auch nie geglaubt«, erwiderte Malcolm bedächtig. »Ich denke, so langsam verstehe ich die ganze Sache endlich. Was passiert jetzt eigentlich als nächstes?«
Erdas Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck, der einem Lächeln näher kam denn je. »Das müssen Sie mir sagen«, antwortete sie. »Sie haben jetzt die Verantwortung.«
Malcolm betrachtete den Ring am Finger. »Also gut, das schaffen wir schon.«
Erda gähnte. »Ich bin furchtbar müde. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehe ich jetzt lieber ins Bett. Wenn ich nicht jedes Zeitalter meine tausend Jahre Schlaf kriege, bin ich für nichts und niemanden zu gebrauchen.«
»Dann hauen Sie sich mal aufs Ohr. Ach, und vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Nichts zu danken«, erwiderte Erda, wobei sie in blaßblauem Licht zu glimmen begann. »Ich habe eigentlich gar nichts damit zu tun, ehrlich. Das alles ist allein Ihr Verdienst.«
Malcolm lächelte und nickte.
»Denken Sie dran«, fuhr Erda fort: »Alles, was Sie vom Gefühl her tun wollen, ist wahrscheinlich richtig.« Mittlerweile war sie schon fast unsichtbar geworden, und Malcolm konnte durch sie hindurch den Couchtisch sehen.
»Wie meinen Sie das?« fragte er noch, aber Erda hatte sich bereits aufgelöst und hinterließ nur ein leichtes Funkeln in der Luft.
Malcolm zuckte die Achseln und murmelte: »Na ja, macht auch nichts. Wahrscheinlich ist sie sowieso telefonisch zu erreichen.«
Plötzlich kamen zwei triefnasse Raben aus dem Abendhimmel herabgeflogen und klopften an die Fensterscheibe. Ihr Federkleid war leicht angesengt. Malcolm öffnete das Fenster, und die beiden hopsten mühsam ins Zimmer.
»Was kann ich für euch beide tun?« fragte Malcolm.
Der erste Rabe stieß seinen Kollegen an, der ihn jedoch zurückstupste.
»Wir haben uns gedacht, du hättest vielleicht Interesse an einem Kurierdienst«, ergriff der erste Rabe das Wort.
»Jetzt, da du die Leitung übernommen hast«, fügte der zweite hinzu.
»Wir haben nämlich bisher für die alte Führung gearbeitet«, erklärte der erste Rabe. »Aber nachdem die nun aufgelöst worden ist …«
»Was macht ihr denn genau?« wollte Malcolm wissen.
»Wir fliegen um die Welt und beobachten, was so alles vor sich geht«, antwortete der Rabe. »Danach kommen wir zurück und erstatten dir Bericht.«
»Das klingt nicht schlecht«, entgegnete Malcolm. »Ihr seid eingestellt.«
Der zweite Rabe senkte dankbar den Schnabel. »Ich hatte schon daran gedacht, den Job hinzuschmeißen, aber jetzt, da der alte Chef weg ist …«
»Wie heißt ihr denn?« erkundigte sich Malcolm.
»Ich bin Gedanke«, antwortete der erste Rabe, »und das da ist Gedächtnis.«
»Wann könnt ihr anfangen?«
Gedanke schien zu zögern, aber Gedächtnis erwiderte: »Sofort.« Als Malcolm nicht hinsah, hackte Gedanke seinem Arbeitskollegen mit aller Kraft in die Schulter.
»Na prima!« freute sich Malcolm. »Zuerst überzeugt ihr euch, ob auch alle Schäden wieder behoben sind. Und danach überprüft ihr, ob noch einer von den alten Göttern übriggeblieben ist.«
Die beiden Raben nickten und flatterten davon. Als sie sich (wie sie glaubten) außer Hörweite befanden, wandte sich Gedanke an Gedächtnis und schimpfte: »Warum hast du ihm das gesagt?«
»Was?« fragte Gedächtnis.
»Na, daß wir sofort anfangen können. Ich hätte gerne mal ein paar Tage Urlaub gehabt.«
»Sag mal, denkst du eigentlich nie nach?« antwortete Gedächtnis. »Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert. Heutzutage gibt’s Telefone, Computer und Faxgeräte, da braucht man überhaupt keine Vögel mehr. Inzwischen ist doch längst jeder entbehrlich, alter Freund, und deshalb kann es nicht schaden,
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