Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
herauf, als die beiden Raben zurückkehrten. Erschöpft – schließlich waren sie die ganze Nacht durchgeflogen – ließen sie sich auf der Fensterbrüstung nieder. Durch das offene Fenster hindurch konnten sie den neuen Herrn der Stürme noch am gleichen Fleck sitzen sehen wie vor mehreren Stunden, als sie ihn verlassen hatten. Er starrte mit ausgesprochen gereiztem Gesichtsausdruck zu Boden.
»Das wird ihm gar nicht gefallen«, flüsterte Gedächtnis.
»Du bringst es ihm bei«, erwiderte Gedanke. »Schließlich kannst du dich von uns beiden am besten ausdrücken.«
»Warum eigentlich immer ich?« fragte Gedächtnis verärgert. »Du bist der Ältere, also sagst du ihm das!«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Das ist doch logisch, oder etwa nicht? Schließlich kann man kein Gedächtnis haben, bevor man nicht einen Gedanken gehabt hat. Da gäbe es ja gar nichts, woran man sich erinnern könnte. Also, stimmt’s, oder hab ich recht?«
Gedächtnis hatte natürlich eindeutig recht, und deshalb war es auch Gedanke, der vorsichtig an die Fensterscheibe klopfte und zuerst in den Salon hüpfte. Malcolm blickte auf, und in seinen Augen sahen die beiden Raben etwas, das sie sogleich wiedererkannten.
»Und?«
»Nichts, Chef«, erwiderte Gedanke. »Wir haben alle Flüsse, Ozeane, Meere, Seen, Teiche, Lagunen, Bäche und Oasen in der Welt abgesucht. Sogar die Trinkwasserreservoirs und Abwasserbecken. Nichts. Sieht so aus, als ob sie einfach …«
Malcolm stöhnte lang und laut auf. Gedanke trat nervös ein paar Schritte zurück und erwartete, jeden Moment in eine kleine dünne Scheibe aus Ton verwandelt zu werden, so sicher zur Zerstörung bestimmt wie das Amen in der Kirche. Doch Malcolm nickte nur, und die beiden Raben flogen voller Dankbarkeit zum Fenster hinaus.
»Nun guck dir bloß mal an, was du da wieder angerichtet hast!« meckerte Gedanke in scharfem Ton, als er und Gedächtnis sich wie gerädert auf einen umgestürzten Baum am Forellenbach fallen ließen. »Da hast du uns ja wieder einen schönen Spinner aufgehalst. Dabei war der letzte schon schlimm genug …«
»Woher sollte ich denn wissen, daß der völlig überschnappt?« protestierte Gedächtnis. »Gestern abend hat der noch einen ganz normalen Eindruck auf mich gemacht.«
»Du lernst wohl nie dazu, wie?« fuhr Gedanke fort. »Wir könnten inzwischen längst über alle Berge sein, aber nein, du mußtest ihm ja unbedingt freiwillig unsere Dienste anbieten! Wenn wir jemals wieder heil aus dieser Sache rauskommen, dann …«
Angesichts der kürzlich von dem neuen Herrn der Raben ausgesprochenen Drohung schien das unwahrscheinlich. Im Osten brach die Morgendämmerung an, und Gedanke betrachtete sie mürrisch.
»Jetzt schau dir das an!« rief er. »Keine Phantasie, dieser Anfänger.«
»Na los!« spornte ihn Gedächtnis an. »Probieren wir’s eben noch mal.«
Müde erhoben sich die beiden Raben in die Luft und ließen sich von einer Thermik davontragen.
15. KAPITEL
Nach dem Untergang der alten Götter wurde Malcolm noch etwa eine Woche lang ziemlich auf Trab gehalten. Zu jeder Tages- und Nachtzeit riefen rangniedrige Geister und göttliche Funktionäre bei ihm an, die ihn baten, irgendwelche Papiere zu lesen oder Dokumente zu unterzeichnen, die sich größtenteils um ganz belanglose Angelegenheiten drehten. Die übriggebliebenen Götter hatten nämlich durch die Vernichtung Wotans selbst das letzte Fünkchen Macht eingebüßt und konnten den Ringträger, so sehr sie es auch versuchten, einfach nicht dazu überreden, etwas von seinen Aufgaben und Fähigkeiten auf sie zu übertragen. Schließlich fand sich jedoch die Mehrheit von ihnen mit der neuen Ordnung der Dinge ab, und die wenigen aufsässigen Gottheiten, die unbedingt weiter protestieren mußten, sahen sich bald in entlegene und unbewohnte Regionen versetzt, wo sie sich mit ihren schwachen Kräften austoben konnten, ohne wirklichen Schaden anrichten zu können.
Im Bemühen, sich einen konstruktiven Anstrich zu geben, rief Malcolm eine neue Klasse von Schutzgottheiten ins Leben. Flüsse und Meere hatten bekanntermaßen schon lange eigene Schutzgeister, die zu einer Zeit eingesetzt worden waren, als Schiffe noch die Haupttransportmittel der Welt darstellten. In den letzten Jahrhunderten spielte diese Beförderungsart jedoch eine immer geringere Rolle, während andererseits die Straßen und Bahnstrecken ohne himmlische Repräsentanten auskommen mußten. Deshalb teilte Malcolm einen Großteil
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