»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«
mich zukam und mich um Hilfe bat. Er habe sich verlaufen, meinte er. Panik machte sich in mir breit. Nicht vergessen: Ein Flugzeug wartet nicht. Auf niemanden. Auch auf mich nicht. Andererseits stand Kundenfreundlichkeit für die Airline an oberster Stelle. Wenn wir selbst einem Passagier nicht helfen konnten, mussten wir jemanden finden, der dazu in der Lage war – das hatte man uns vom ersten Tag an eingebläut. Die Zeit lief. Natürlich konnte ich dem armen Kerl helfen, doch dann würde ich meine Bücher vor dem verschlossenen Klassenzimmer vorfinden. Ich konnte mich entschuldigen und ihn einfach stehen lassen, was ich am liebsten getan hätte, aber das wäre wohl alles andere als kundenfreundlich gewesen. Vielleicht hatten sie mir ja eine Falle gestellt. Weshalb sonst schien die Situation so ausweglos? Ratlos stand ich da.
Doch dann geschah ein kleines Wunder. Eine Putzfrau bog mit ihrem Wagen um die Ecke. Ich versuchte sie mittels Telepathie auf mich aufmerksam zu machen: Los, komm schon, sieh her. Rette mich. Bitte! Zu meiner Verblüffung drehte sie sich um und fragte, ob alles in Ordnung sei. Eilig schilderte ich ihr die Situation – dass der Mann sich verlaufen habe, mein Unterricht gleich weitergehe und ich unter keinen Umständen zu spät kommen dürfe – und rannte los. Ich hetzte den Korridor entlang (was logischerweise ebenfalls ein absolutes No-Go für eine Flugbegleiterin ist) und rutschte eine Sekunde vor Unterrichtsbeginn auf meinen Stuhl … den Rest des Tages linste ich ständig über meine Schulter, weil ich permanent damit rechnete, aus dem Verkehr gezogen zu werden.
Als wir glaubten, es keine Sekunde länger ertragen zu können, und eine Meuterei unmittelbar bevorstand, passierte, womit keiner gerechnet hatte: Die Ausbilder befahlen uns, unsere Sachen zu nehmen und uns in einem Raum am Ende des Flurs einzufinden.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, knurrte ich, schnappte mein knapp ein Kilo schweres Handbuch und stand auf.
»Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte«, stöhnte Linda, als wir gemeinsam den Flur hinuntergingen.
»Wieso müssen sie uns so quälen?«, fragte Georgia noch, als wir den Raum betraten. Aber dort blieb uns der Mund offen stehen: lauter nagelneue schwarze Rollkoffer standen fein säuberlich an der Wand entlang aufgereiht.
»O mein Gott«, keuchte sie.
O mein Gott. Das traf den Nagel auf den Kopf. Der Raum war in vier Stationen aufgeteilt, und in jeder Ecke stand eine Frau mit einem Maßband um den Hals neben einem Ganzkörperspiegel. Ich schluckte. Auf einem langen silberfarbenen Ständer hingen marineblaue Kleider, Röcke, Hosen, Blazer und Westen. Was für ein Anblick!
»Nächste Woche werden Sie das erste Mal auf einem Flug eingesetzt«, verkündete unsere Ausbilderin. Ich traute meinen Ohren kaum. Am liebsten hätte ich mich gekniffen, um herauszufinden, ob ich nicht träumte. Ich hätte jeden einzelnen unserer Ausbilder umarmen und küssen können. Es fehlte nicht viel und ich wäre zu Boden gesunken und in Tränen ausgebrochen. Kennen Sie das »Stockholm-Syndrom«? Dieses Phänomen tritt dann auf, wenn Geiseln (in diesem Fall künftige Flugbegleiter) anfangen, Gefühle der Verbundenheit zu den Geiselnehmern (den Ausbildern) zu entwickeln, trotz der Gefahren, Risiken und Qualen, denen sie in der Gefangenschaft ausgesetzt sind. Diese drastische Gemütsänderung tritt meist in jenen Momenten auf, wenn den Geiseln kleine Gesten der Freundlichkeit entgegengebracht werden. Glauben Sie mir, es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als sich zum ersten Mal in seiner hübschen blauen Uniform im Spiegel zu sehen. Das ist die einzig mögliche Erklärung dafür, weshalb ich mich bei unseren Ausbildern auch noch bedankte, als sie erklärten, dass uns die Kosten für das blaue Polyester-Outfit, und zwar die vollen 800 Dollar, in 20-Dollar-Raten vom Gehalt abgezogen werden würden. (Zur Ausstattung gehören ein schwerer Rollkoffer mit dazu passender Bordtasche, eine dunkelblaue Aktentasche, ein roter Pulli, eine blaue Weste, ein blauer Blazer, ein Trenchcoat, zwei Röcke, sechs weiße Blusen, ein Kleid und zwei Schürzen mit Nadelstreifen. Die Hosen mussten gegen Aufpreis extra bestellt werden.)
Zum zweiten Mal trat das Stockholm-Syndrom während meines ersten Einsatzes auf, drei Wochen vor dem offiziellen Ende unserer Ausbildung. Inzwischen waren wir in Dreiergruppen eingeteilt worden, von denen jede einen sogenannten »Roundtrip« absolvieren musste, bei dem
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