Wir in drei Worten
stecken.«
»Oh, nein. Er war eher wie der Bruder, den ich nie hatte.« Zumidest wenn wir bei einer Sekte im ostenglischen Hochmoor aufgewachsen wären, überwacht von der Sittenpolizei.
»Du warst damals seine beste Freundin. Ein Jammer, dass ihr euch aus den Augen verloren habt. Warum eigentlich?«
»Ist das so eigenartig?«
»Wahrscheinlich nicht. Nur, dass du normalerweise gut darin bist, Kontakte zu pflegen, und er dich zu mögen scheint.«
Ich schweige. Eine Antwort wäre zu riskant und zu schmerzhaft.
»Und wenn wir uns darauf einigen, dass Simon bi ist, hätte er dann wenigstens Potenzial?«
»Fünf Minuten single, und schon versuchst du, mich zu verkuppeln. Ach, du meine Güte!«
»War nur ein Scherz«, sagt Caroline.
Als sie sich zu mir hinüberbeugt, um mir einen spielerischen Schubs zu versetzen, biegt das Taxi um die Ecke, und sie wird gegen die Tür geschleudert.
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22
I ch muss meine Vorfreude, Ken, dem Chefredakteur, das Exklusivinterview mit Natalie Shale anzukündigen, leider auf Eis legen. Denn Vicky bemerkt mich in dem Augenblick, da mein Fuß den Teppich der Nachrichtenredaktion berührt, wo es wie immer hoch hergeht. Vicky ist stellvertretende Ressortchefin und ein Geschöpf, das an eine Kreuzung aus Jungfrau und Schlange aus der griechischen Mythologie erinnert.
»Rachel!«, brüllt sie.
Gehorsam leiste ich dem Befehl Folge und eile, zwischen den Schreibtischen hindurch, an ihre Seite.
»Der Prozess über den Mann, der sich Krüppelleistungen erschlichen hat, der endlich abgeschlossen ist«, beginnt sie und klopft mit dem Bleistift auf den Bildschirm. Sie drückt sich charmant aus wie immer, und ihr Tonfall ähnelt mit Arsen versetztem Honig. »Oder sollte ich besser sagen, der humpelnd die Ziellinie erreicht hat? Warum verwandelt sich Michael Tallack im fünften Absatz plötzlich in Christopher?«
Ich spüre, wie ich rot anlaufe.
»Tut er das?«, erwidere ich, während mir auf der Oberlippe der Schweiß ausbricht. Ich komme gerade von einer Urteilsverkündung wegen Totschlags und habe diese Story schon fast vergessen. »Sorry.«
»Ja. Hopalong Cassidys Bruder wurde von jeglicher Tatbeteiligung freigesprochen, richtig?«
»Ja, entschuldige …« Mist, Mist, Mist.
»Du solltest versuchen, deine Artikel von Verleumdungen freizuhalten, sofern es dir nicht zu viel Mühe macht.«
»Es tut mir wirklich leid, Vicky. Keine Ahnung, wie das passieren konnte.«
»Ein Glück, dass ich es noch bemerkt habe«, verkündet Vicky.
»Ja, danke.«
Ich wette, sie hat es gar nicht selbst gesehen, sondern ist von einem ihrer Untergebenen darauf hingewiesen worden. Gewisse Mitarbeiter in der Nachrichtenredaktion sind nämlich besser bekannt dafür, andere in den Schmutz zu ziehen, als für ihre eigenen Wahnsinnsleistungen. »Zuckerbrot und Peitsche«, wie mein Freund Dougie es einmal ausgedrückt hat. Irgendwann hatte er genug von dem Gemecker und machte sich nach Schottland davon, wo er heute ein erfolgreicher Gerichtsreporter ist. Nicht zum ersten Mal fühle ich mich wie ein von Rankenfußkrebsen besiedelter Felsen, umspült von den Wassern der Zeit.
Im Journalismus herrscht, wie vermutlich fast überall, die paradoxe Situation vor, dass man mit zunehmendem Erfolg immer seltener die Dinge tut, die ursprünglich Grund für die Berufswahl waren: das heißt, einer Story auf die Spur zu kommen und darüber zu schreiben. Ich könnte mich auf eine Stelle in der Redaktion bewerben, doch dann würde ich den ganzen Tag am Telefon hängen oder mich mit Leuten herumstreiten. Und ich müsste mich mit den Vickys dieser Welt in ein und demselben Raum aufhalten.
»Ist Ken da?«
»Ja, irgendwo.« Vicky hat das Interesse an mir verloren und hebt ab, als an ihrem Telefon ein Lämpchen aufblinkt.
»Was ist los, Woodford? Welchem Umstand verdanken wir diese Ehre?«
Als ich mich umdrehe, sehe ich Ken vor mir. Er wühlt in einer Tüte Wotsits-Käseflips. Unter seinem Arm klemmt ein Exemplar unserer Zeitung. Ken hat einen struppigen grauen Haarschopf, der aussieht, als hätte er ihn mit einer Gartenschere zu einem Würfel getrimmt. Bei jeder unserer Begegnungen ist er noch ein wenig viereckiger. Er könnte einen Karton als Hut tragen.
»Ich bin vorbeigekommen, weil ich gute Nachrichten habe.«
»Ach, herrje, Sie sind doch nicht etwa schwanger?«
»Nein …« Nie zuvor war ich weniger schwanger als jetzt, danke, Ken.
»Gott sei Dank.«
Ken Baggaley gilt allgemein als »streng, aber gerecht«, wobei
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