Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
Einschätzungen der Zeitgenossen und Weggefährten systematisch zu durchforsten , kommt man unweigerlich zu dem Schluß , daß Goethe , wie Jacobi es ausdrückt , einen › wahrhaft julianischen Haß gegen das geschichtliche Christentum ‹ gehegt hat.«
»Ich bin kein Literaturexperte« , sagt Backnang , »aber mir schien doch gerade der Doktor Faust immer auch ein verzweifelter Gottsucher zu sein , im Grunde der Vorläufer des modernen Forschers , dem all seine Wissenschaft keinen Seelenfrieden zu schenken vermag. Wenn ich mich recht entsinne , gibt es dort sogar eine Stelle , wo die Osterglocken ihn vom Selbstmord abhalten.«
»Von solchen Ködern haben sich Generationen ebenso wohlmeinender wie naiver Germanisten täuschen lassen. Natürlich auch , weil der geistige Verfall in der Literatur seither immer entsetzlichere Formen angenommen hat. In der Dichtung unserer Zeit gehören Gotteslästerung , Pornographie und Fäkalsprache ja sozusagen zum guten Ton. Aber Monsignore , ich frage Sie , was würden Sie von einem Mann halten , der das Kreuz unseres Herrn als › das leidige Marterholz , das Widerwärtigste unter der Sonne ‹ bezeichnet? Der angesichts der Kruzifixe , die den Wanderer in Italien zu Besinnung und Gebet rufen , aufstöhnt: › Wie kann man daran Gefallen haben , andauernd dem Tod in seiner gräßlichsten Gestalt zu begegnen? ‹ «
»Das ist unschön , in der Tat …«
»Und wenn Sie vor dem Hintergrund dieser Selbstaussagen noch einmal den Faust aufschlagen , dann sehen Sie plötzlich glasklar , wes Geistes Kind Goethe in Wirklichkeit ist: Es gibt dort eine kleine Szene , ganz nebenbei gesetzt , so daß man sie fast überliest , de facto handelt es sich aber um eine Schlüsselstelle für das Goethe’sche Selbstverständnis , überschrieben mit › Landstraße ‹ . In den Anweisungen steht lapidar: › Ein Kreuz am Wege ‹ . Faust tritt auf und fragt – ich zitiere: › Was gibt’s , Mephisto , hast du Eil? / Was schlägst vorm Kreuz die Augen nieder? ‹ Und Mephistos Antwort lautet: › Ich weiß es wohl , es ist ein Vorurteil , / Allein genug , mir ist’s einmal zuwider. ‹ Das ist alles. Aber was bedeutet es , wenn man genau hinschaut und diesen Satz mit den eben erwähnten Aussagen zusammen betrachtet? – In dieser Szene zeigt sich , daß nicht etwa Faust , wie immer angenommen wird , das Alter ego des Dichters ist und seine ureigensten Empfindungen zum Ausdruck bringt , sondern Mephisto – der Teufel selbst. So weit geht Goethes Identifikation. Da nimmt es nicht wunder , daß er sich im weiteren zu geradezu blasphemischen Exzessen hinreißen läßt: Erinnern Sie sich an die Reaktion Mephistos bei Fausts Tod: › Es ist vollbracht! ‹ läßt Goethe ihn sagen. Er legt tatsächlich die letzten Worte unseres Herrn dem Teufel in den Mund.«
»Daß Goethe beim Faust auf eigene Erfahrungen zurückgegriffen hat , liegt ja auf der Hand« , knurrt Kuffel.
Heckmann stutzt: »Gut« , sagt er , »die konkrete Form des Teufelspaktes mit der Eigenblutunterschrift und ähnlichem wird man dem Volksglauben beziehungsweise der dichterischen Phantasie zuschreiben , hingegen …«
»Solche Dinge finden Sie in der dämonologischen Literatur zuhauf. Oder glauben Sie , daß der Fürst der Welt von der Möglichkeit , Lehen gegen die Überlassung von Seelenrechten zu vergeben , keinen Gebrauch macht? Eine der Hauptgefahren solcher Literarisierungen besteht ja darin , daß die Macht des Satans dem Bereich des Märchens zugeordnet wird. Davor müssen wir uns vor allem hüten! – Nicht wahr , Carl?«
Carl glüht vor Scham auf und wendet sich ab , damit niemand fragt.
»Nun , Ihr junger Freund wird kaum wissen , wovon die Rede ist. Aber lassen Sie mich noch einen Gedanken ausführen …«
Lautlos wie die Figur in einem Schattenspiel ist eine ältere Dame zur Tür hereingekommen , steht plötzlich mitten im Raum und räuspert sich. Das lange graue Haar hat sie als Knoten auf dem Hinterkopf zusammengefaßt. Beide Hände halten unmittelbar unterhalb des Busens einen riesigen Schlüsselbund. Heckmann runzelt die Stirn. Für einen Augenblick herrscht Totenstille.
»Wie ich höre« , sagt sie , »haben Sie sich bereits allseits bekannt gemacht und sind mitten im Gespräch.«
»Mit Ihrer Erlaubnis , Gräfin , würde ich meinen Gedanken gern noch zu Ende bringen …«
»Bitte , Heckmann , lassen Sie sich nicht stören.«
Der Ton , in dem sie das sagt , hätte jeden anderen sofort verstummen
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