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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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lassen.
    »Für Goethe« , fährt Heckmann fort , »der sich in seiner Selbstüberhebung ja allen Ernstes als › Olympier ‹ sieht – also auf einer Rangstufe mit den griechischen Göttern – , ist der Glaube , daß die gefallene Schöpfung durch das Kreuzesopfer des Sohnes gerettet wird , an sich schon – wie Paulus so treffend sagt: › Den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit ‹ . – Die Vorstellung , daß der Mensch überhaupt der Erlösung bedarf , betrachtet Goethe als Indiz einer niederen Geisteshaltung , gerade gut genug , um Kranke , Alte und Kinder zu trösten. Weil er aber dort oben auf seinem Olymp der sprichwörtlichen Heidenangstvor Krankheit und Tod nichts entgegenzusetzen hat , geht er zeitlebens allem Häßlichen , Schwachen und Gebrechlichen aus dem Weg. Er meidet Sanatorien , Irrenanstalten , Invalidenheime. › Ich fliehe alles Unreine ‹ , sagt er. Selbst den Begräbnissen enger Freunde bleibt er unter fadenscheinigen Begründungen fern. – Was bedeutet das nun? – Es liegt auf der Hand und läßt sich auch historisch belegen , daß es von Goethes Abscheu angesichts der leidenden Kreatur und seiner Verachtung für die , die in Not und Verzweiflung Gott um Erbarmen anflehen , nur ein kleiner Schritt ist zu Nietzsches Übermenschentum. Und der Übermensch findet seine logische Fortsetzung in der Ausrufung der Überlegenheit des arischen Herrenmenschen durch die Nationalsozialisten. Glauben Sie mir , ich weiß , wovon ich rede: Ich bin in Dachau gewesen. Als Häftling , zehn Monate lang , bis zur Befreiung. Wer Mitleid und Barmherzigkeit als Schwäche diskreditiert , wird früher oder später zur Bestie. Ich würde sogar behaupten , daß alle Linien , die in unserem Jahrhundert den von Christus losgelösten Humanismus in Konzentrationslagern und Gulags haben enden lassen , bei Goethe vorgezeichnet sind.«
    »Das geht doch ein bißchen weit« , grummelt Backnang.
    »Daß Sie als heimlicher Wagnerianer diese Folgerung so nicht stehenlassen wollen , Backnang , liegt ja auf der Hand« , sagt Kuffel , und beide brechen in schallendes Gelächter aus.
    Die Gräfin rasselt mit ihrem Schlüsselbund , und alle sind still: »Meine Herren« , sagt sie , »bevor wir uns in Kunstdebatten verirren , sollten wir der Sache doch präzise auf den Grund gehen , zumal wir mit … Wie war der Name Ihres jungen Freundes noch gleich , Bernhard?«
    »Carl. Carl Pacher.«
    »Ich nehme an , Carl , daß Sie mit all diesen Gedanken noch nicht so vertraut sind?«
    Carl nickt.
    »Sehen Sie , und damit Carl sich in etwa vorstellen kann , worum es hier geht , ist es wichtig , daß wir uns zunächst einmal klarmachen , von welchen naturphilosophischen Voraussetzungen Goethe überhaupt ausgeht. Selbst wenn er als Dichter kein systematisch durchgearbeitetes Gedankengebäude hinterlassen hat , so ist all seinen Auslassungen natürlich ein philosophisches Grundgerüst implizit. Ihr Buch , Herr Heckmann , zeigt da interessante Aspekte auf , wobei Sie , wie ich bei der Lektüre feststellen durfte , weniger auf die Prämissen des Goethe’schen Denkens eingehen … Das wäre vielleicht ein lohnendes Thema für eine weitere Publikation , nicht wahr? Es läßt sich nämlich feststellen , daß Goethe einer Naturvorstellung anhängt , in der nicht länger das göttliche Wort Urheber aller Kreatur ist , sondern ein in sich bewegter und sich aus sich selbst herausbewegender Umwandlungsprozeß , in dem alle Wesen lediglich Stadien auf dem Weg zur nächsthöheren Stufe sind. › Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre ‹ , sagt er , und: › Die Lehre der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur. ‹ Er geht in der Tat davon aus , daß wir erst Pflanzen und Tiere waren , bevor wir zu Menschen wurden. Von dort ist es nicht weit zu Darwins Lehre von der Entstehung der Arten und Haeckels biogenetischem Grundgesetz , demzufolge jeder Mensch während seiner Embryonalentwicklung dreißig Tierstadien durchläuft. Nun hat Professor Eisenkranz dieses Haeckel’sche Gesetz im Verlauf seines fast sechzigjährigen Forscherlebens anhand von 20 000 embryonalen Schnitten ein für allemal widerlegt und als das enttarnt , was es in Wirklichkeit ist: ein Mythos in wissenschaftlicher Verkleidung. Statt dessen gilt das , wie er es nennt , Gesetz der Erhaltung der Individualität . Der Mensch ist ab dem Moment der Verschmelzung von Ei und Samenzelle Mensch , mehr noch: Er ist dieser eine Mensch. Das bedeutet , daß es sich auch

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