Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
Heizung wird grundsätzlich nicht vor Mitte November eingeschaltet. Die Gräfin ist der Meinung , daß ein zusätzlicher Pullover es genauso tut. Und zu viel Wärme ist auch nicht gut für den Kefir.«
Er kichert. »Aber ich hatte dir doch gesagt , daß du warme Kleidung einpacken sollst.«
Aus den hinteren Räumen dringt eine hohe Altmännerstimme herüber.
»Heckmann!«
Kuffel spricht den Namen aus , als würde er ihn auf den Boden spucken.
»Er ist Pfingsten schon allen mit seinem Goethe-Fimmel auf die Nerven gegangen. Daß Goethe kein Christ war , weiß wirklich jedes Kind. Aber Heckmann tut so , als hätte er da etwas sensationell Neues zutage gefördert.«
Kuffel schaut rechts um die Ecke , wo sich die Küche befindet , ob er vielleicht Frau Munzinger sieht. Dort ist alles dunkel. Er schnaubt , nimmt Witterung auf , spitzt die Ohren: »Still!«
Carl meint , eine Frau sprechen zu hören , denkt an die Nichte der Gräfin. Dunkel polterndes Lachen.
»Backnang. Vielleicht weiß er , wo die Munzinger sich herumtreibt.«
Die Tür am anderen Ende des Flurs steht einen Spalt offen. Kuffel klopft , bevor sie eintreten. Das erste , worauf Carls Blick fällt , ist das lebensgroße Porträt einer Dame in langem silbergrauem Kleid. Ihr zur Seite ein häßlicher Junge , der seinen Arm um einen Jagdhund legt. Ringsherum Geweihtrophäen , ausgestopfte Tiere. An der Stirnseite des Raums ist ein mächtiger Kamin in die Wand eingelassen , über dem Sims das Relief eines Wappenschilds: Rautenmuster , gekreuzte Pfeile , ein züngelnder Bär im Profil. Vor einem samten gepolsterten Eichenstuhl steht ein dicker Priester in Soutane mit wirren grauen Locken und zwinkert Kuffel zu. Der hagere Mann neben ihm mit der unangenehm hohen Stimme spricht weiter , ohne Notiz von ihnen zu nehmen. Eine ältliche Frau in beigem Kostüm sitzt auf der Kante eines freistehenden Sessels und hält ihren Blick auf die Henkel der Tasche in ihren Händen gerichtet.
»Den Gottes-Sohn-Glauben einschließlich des Opfertodes und der Auferstehung bezeichnet Goethe als › das Märchen von Christus ‹. Wörtlich nachzulesen in seinen Briefen an Herder. Er geht sogar so weit , im Christentum , wie es von der Kirche verkündet wird , die Hauptursache für eine über tausendjährige Stagnation in der geistigen Entwicklung des Menschengeschlechts zu sehen. Seiner Ansicht nach ist der Glaube an die Menschwerdung Gottes das größte Hindernis für die Menschwerdung des Menschen …«
Backnang schaut halb amüsiert , halb entschuldigend zu Kuffel herüber , nutzt die Stille eines Atemzuges , um auf ihn zuzugehen , ihm die Hand zu schütteln: »Ich hoffe , Sie hatten eine gute Reise. Und wie ich sehe , haben Sie auch Ihren jungen Freund mitgebracht …«
Carl zuckt zusammen , ist für einen Moment überzeugt , daß die Gerüchte , er sei so etwas wie Kuffels Geliebter , längst bis hierher vorgedrungen sind.
»… die Weitergabe des Glaubens an die Jugend steht ja im Zentrum all unserer Bemühungen , nicht wahr.«
Beide lachen.
»Kennen Sie Herrn Heckmann und seine Frau? Er erläutert uns gerade einige Gedankengänge aus seinem neuen Buch über Goethe.«
»Angenehm« , sagt Heckmann. »Ich darf Ihnen meine Frau vorstellen.«
»Wir haben uns Pfingsten schon getroffen …«
»Richtig , ich erinnere mich: Wir sprachen über den Prometheus , nicht wahr? – Inzwischen ist es nun also erschienen , mein Buch. › Meidet Goethe! ‹ lautet der Titel. Ich werde es morgen nachmittag hier erstmals einer – ich hoffe doch sehr – größeren und vor allem sachkundigen Öffentlichkeit vorstellen. Normalerweise sind die Leute , mit denen man über solche Dinge spricht , ja nicht in der Lage , die notwendigen Schlüsse aus den theologischen Implikationen dichterischen Fabulierens zu ziehen , insbesondere wenn es sich – wie im Fall Goethes – um eine Gestalt handelt , die aufgrund ihrer Bedeutung für die nationale Identität als unantastbar gilt.«
Kuffel brummt etwas Unverständliches.
»Wie ich bereits sagte , Monsignore , hat Goethe in seinen Werken und sogar in der persönlichen Begegnung – zum Beispiel der Fürstin Gallitzin gegenüber , die ja für eine ganze Generation katholischer Dichter und Denker von herausragender Bedeutung war … – Er hat immer wieder falsche Fährten gelegt , um seine wahre Gesinnung zu verschleiern. Aber wenn man sich daranmacht , wie ich es in nun bald zehnjähriger Forschungsarbeit getan habe , sein Werk und auch die
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