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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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noch immer die Möglichkeit , in den Nebel zurückzukehren. Oder auf dieser Höhe entlang des Abhangs das Tal vollständig zu umlaufen. Oder wie geplant zur Bürkihütte aufzusteigen , dort zu rasten und auf der Rückseite einen günstigeren Abstieg zu suchen. Rasche steht immer noch da , schaut die Felswand an , überlegt. Carl hofft , daß er sich für eine der Alternativen entscheidet , sieht Pille Lösers sorgenvolles Gesicht und Martin Kriens Grinsen , der unbedingt klettern will. Guntram murmelt: »Wahrscheinlich schafft man es. Bleibt die Frage , ob es vernünftig ist.«
    Rasche bespricht sich mit Tante Schweick. Tante Schweick hat nach ihm die meiste Erfahrung. Sie scheinen derselben Meinung zu sein.
    »Glaubst du , die Wand hat sich schon soweit stabilisiert , daß man einsteigen kann?« fragt Pille Löser , um Rasche zu signalisieren , daß er selbst es nicht glaubt. Rasche spitzt die Lippen , nickt bedächtig: »Ist letztes Jahr auch gegangen. Oder hat jemand Angst? Der kann sich von mir aus auch Brot und Wurst geben lassen und hier sitzen bleiben , bis wir zurück sind.«
    Keiner meldet sich.
    Rasche setzt sich in Bewegung , steigt mit sicheren Tritten voraus , ist schon sechs , sieben Meter über Martin Kriens , ruft: »Alles fest. Hier vorne sind sogar noch Ösen für die Karabiner.«
    Die Wand scheint endlos. Carl fragt sich , warum sie keine Seilschaften gebildet haben? Sowohl Rasche als auch Tante Schweick haben Seile auf den Rucksack geschnallt. Wo , wenn nicht hier , soll man sie benutzen? Fragt sich , warum er nicht danach gefragt hat: Weil Rasche sich dann später am Abend auf der Laderampe vor dem Heuschober zwischen zwei Liedern über ihn lustig machen würde , vor Ursula-Ulla , und egal ob und wie er darauf reagierte , er stünde blöd da , als Feigling , als Klugscheißer , als einer , der sich verteidigen muß und von den anderen ausgelacht wird. Wenn er abstürzt , ist es ein tragischer Tod. Er wird sich in ihr Herz brennen als die Möglichkeit , die vom Schicksal zunichte gemacht worden ist. Das wird sie erschüttern. Sie wird ihn nie vergessen.
    Augenblicklich sieht es nicht danach aus. Wo der Fuß keinen natürlichen Halt findet , haben sie vor Jahrzehnten Stufen in den Fels geschlagen oder Eisenstifte versenkt. Er klettert an sechster Stelle , vor ihm Rasche , Martin Kriens , Bernd Mariolus , Guntram und Pille Löser. Hinter ihm nur noch Tante Schweick. Die Abstände zwischen ihnen werden größer. Er fühlt sich fast sicher. Tritt , zieht sich hoch , tritt , zieht sich hoch. Weiter oben finden sich an schwierigeren Stellen rostige Stahlseile , an denen man sich festhalten kann. Er dreht sich um , sieht das Ehmarnhorn auf der anderen Seite des Tals in den Himmel ragen , den endlosen Grat , der von der Satansspitze hinaufführt , darunter ein Wolkenband. Eines Tages wird auch er dort auf dem Gipfel stehen. Er schaut vorsichtig hinunter. Das Bild , wie er losläßt und vornüberkippt , drei , vier Sekunden freier Fall. Im Moment des Aufschlags ist es vorbei , sein Leben. Alle denken , es war ein Unfall , nur er selber weiß , daß er einen Entschluß gefällt hat , in eine Entscheidung hineingerutscht ist aus Übermut , Irrsinn , wegen einer teuflischen Einflüsterung. Er würde als Selbstmörder zur Hölle fahren. Ein Kribbeln im Bauch , Vorstufen von Hohnlachen , plötzlich ein Rieselgeräusch.
    »Achtung , Steine!« ruft Martin Kriens.
    Aufschläge. Kinderschädelgroße Brocken springen wenige Meter entfernt an ihm vorbei. Er schimpft , steigt weiter , hat immer noch keine Schwierigkeiten Fuß zu fassen. Soweit er überschauen kann , was noch vor ihm liegt , wird es auch nicht gefährlicher. Wieder rieselt es , er brüllt: »Könnt ihr mal aufpassen , Mann!«
    Pille hebt entschuldigend die Hand.
    Carl wartet , um Abstand zwischen sich und die Vorderleute zu bringen , sieht jetzt , daß ganz oben , kurz vor dem Ziel , ein Überhang ist , über dem Rasche verschwindet. Dann Martin Kriens. Guntram bleibt stehen , atmet durch. Hat Mühe , den richtigen Griff zu finden. Bis dorthin sind es noch etwa fünfzehn Meter. Carl ahnt , was auf ihn zukommt. Pille schafft es im vierten Anlauf. Dann ist auch er außer Sicht. Die Angst kehrt zurück. Der Schweiß ist kalt , wird weder von Hitze noch von Anstrengung verursacht. Carl erreicht den Fuß des Überhangs , holt tief Luft , spürt den Puls in seinen Schläfen. Im Grunde muß er nur eine etwas zu hohe Stufe überwinden. Sie ist aber so hoch ,

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