Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
daß er nicht sehen kann , wie es oberhalb weitergeht. Rechter Hand gibt es Kerben , an denen er seitlich hochklettern kann , wenn er mit den Händen einen festen Griff über sich findet. Er geht die verschiedenen Bewegungen durch. Atmet schwer , versucht sich die Augen trockenzureiben: Salz vermischt mit Sonnencreme , Steinstaub. Es brennt , gleich wird er blind sein.
Tante Schweick ist neben ihm , fragt: »Alles klar?«
»Ich sammle mich nur einen Moment. Geh ruhig vor.«
Tante Schweick weiß , wie man treten muß. Er ist zum siebten Mal in Lenza , hat fünf oder sechs Viertausender bestiegen , nicht nur Anfängerberge wie das Azzalihorn.
»Wenn du Hilfe brauchst , sag Bescheid.«
»Nicht nötig , krieg ich hin.«
Er muß sich nur einprägen , wie Tante Schweick klettert , wo er seine Griffe findet. Bei ihm sieht es mühelos und ungefährlich aus. Carl nimmt noch einmal seine Gedanken zusammen , dann versucht er an derselben Stelle zu greifen , stemmt seine Füße rechts in den Fels , die Hände schmerzen , er hängt fast waagerecht , ist hoch genug , um ein Knie auf die Felsplatte zu schieben. Die Kante bohrt sich ins Fleisch. Er verflucht seine abgeschnittene Hose , preßt die Schenkel fest an die überhängende Fläche , wuchtet sich irgendwie hinauf , merkt , daß er nicht das Plateau der Hütte erreicht hat , sondern auf einer schmalen , schiefen Ebene kauert. Er dreht sich vorsichtig nach vorn. Wenn er von hier zurückrutscht , fällt er doppelt so tief , wie er es sich vorhin ausgemalt hat. Ihm fehlen zwei Schritte auf blankem , glattpoliertem Fels , der fünfundvierzig Grad steil ansteigt. Er verlagert sein Gewicht , läßt sich nach vorn kippen , um weiter oben Halt zu finden , findet keinen , stellt fest , daß das Profil seiner Schuhe nicht greift. Seine Finger klammern sich an eine bröselige Kante , während die Füße langsam , aber unaufhaltsam abwärtsrutschen. Er muß über diese Klippe. Unmittelbar darüber befindet sich der Rest befestigten Wegs. Er sieht die anderen dort stehen , lachen , ihre Feldflaschen aufschrauben. Rasche schlägt Tante Schweick auf die Schulter , stolz , daß sie die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Guntram packt den Gaskocher aus dem Rucksack , Pille Löser hat seinen Arm um Bernd Mariolus gelegt , deutet auf den Gipfel des Ehmarnhorns , während das Profil von Carls Sohle noch immer nicht greift. Zentimeter für Zentimeter rutscht er auf die Kante zu , hinter der er in den Tod stürzen wird , wenn nicht bald etwas geschieht. Seine Fingerspitzen krallen sich in den Stein , ihre Kraft läßt nach. Er preßt alle Luft zusammen , will schreien , merkt , daß es nicht für Schreien und Halten ausreicht. Versucht erneut sein Gewicht so zu verlagern , daß dieses verfluchte Vibramprofil , von dem sie ihm immer erzählt haben , es sei aus einem Wundermaterial , mit dem man fast senkrecht die Wände hochgehen könne , daß diese gottverdammte Sohle endlich Halt findet. Er ist nur noch eine Fußlänge vom Abgrund entfernt , spürt nichts als das Rutschen und sein Herz , das von unten gegen den Kehlkopf hämmert. Die Bewegungen verlangsamen sich und mit den Bewegungen die Gedanken. Sie dehnen sich in Richtung Unendlichkeit aus , werden glasklar und unwiederbringlich: Gedanken wie weit aufgerissene Augen , durch die er sieht , daß in wenigen Sekunden , die aus Fels , verdorrtem Gras , Gletscher , Schnee , rasendem Puls , glühendem Kopf bestehen , sein Leben auf dieser schönen Erde vorbei sein wird. Es ist vergangen , ohne daß er irgend etwas von dem , auf das es ankam , geschafft oder erfahren hat: kein Mädchen geliebt , nie von einem Mädchen geliebt worden. Und nicht ein einziges Mal hat er diesen Glauben gehabt , von der Größe eines Senfkorns , geschweige denn all seine Hoffnung auf Gott geworfen. Selbst jetzt , wo ihm nichts und niemand mehr helfen kann , beschäftigt sich sein Hirn mit Blödsinn. Das , was er sonst großtuerisch zu Gottvertrauen erklärt , hat sich aufgelöst in Angst und Verzweiflung über sein erbärmliches Dasein , dem er rein gar nichts von Wert abgewinnen konnte. Panik , die jemand anderem gehört , er selbst ist unbeteiligt. Nicht einmal in diesen letzten Momenten schafft er es , sich dem Ewigen und Allmächtigen zu überantworten , ringt statt dessen mit zusammengeschnürter Brust um einen Hilfeschrei nach Rasche oder Guntram , doch aus der Kehle kommt noch immer kein Laut , die Muskeln in Armen , Händen , Fingern behalten die Luft
Weitere Kostenlose Bücher