Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
gewesen. Drei Stunden lang sind sie gut vierhundert Höhenmeter durch sonnendurchfluteten Wald und lichte Almen hinaufgestiegen. Alles sah nach einer perfekten Tour aus. Dann , kurz oberhalb der Baumgrenze , schlug es um. Carl friert erbärmlich in seinem viel zu dünnen Hemd , der abgeschnittenen Hose , die sich mit Feuchte vollsaugt , Schritt für Schritt schwerer und steifer wird , an der Haut klebt.
Rasche hat sich verlaufen , auch wenn er es nicht zugibt.
Sie queren ein riesiges Geröllfeld. Die Reihe der Steinpyramiden , mit denen die Route normalerweise alle fünfzig bis hundert Meter markiert wird , ist schon vor längerer Zeit abgerissen.
Rasche hebt die Hand , hält an , stemmt die Hände in die Seiten , dreht sich einmal im Kreis , sieht grauweiße Schleier in allen Richtungen , Geisterfelsen , Baumkrüppel , sonst nichts. Sie stehen ohne Orientierung inmitten des Steilhangs. Immer unkontrollierbareres Schlottern.
»Laß uns umkehren« , sagt Pille Löser. »Noch finden wir den Weg zurück , und das Wetter wird eher schlechter.«
»Ich kenne die Route« , sagt Rasche. »Sie verläuft exakt hier , Pyramiden hin , Pyramiden her. Sicher sind im Herbst oder Frühjahr ein paar Lawinen abgegangen. Man erkennt es an den geknickten , relativ frisch zersplitterten Kiefernstämmen. Auch daran , daß der Stein noch nicht mit Flechten überwuchert ist. Glaubt mir: Meine Orientierung täuscht mich nie. Und so sehr haben die Lawinen das Gelände nun auch nicht verändert.«
Carl schaut Guntram an , Guntram zieht die Augenbrauen hoch. Sie wissen beide , daß Rasche lügt , sei es aus Eitelkeit oder weil er die Gruppe nicht ängstigen will. Carl schüttelt den Kopf , hört eine neuerliche Lawine herunterdonnern , die ihnen alle Knochen brechen wird , stellt sich vor , wie sie in einer Sackgasse landen , aus der es weder vor- noch zurückgeht.
Das Geröll führt auf ein Schneefeld. In diesem Teil des Seitentals tauen die Schneefelder zuletzt , während mancher Jahre gar nicht , weil es immer im Schatten liegt. Das Schmelzwasser hat noch kein Bachbett , rinnt in breiter Front den Berg hinunter. Carl schwitzt vor Anstrengung und ist gleichzeitig bis auf die Knochen durchgefroren. Nebel und Schnee schieben sich ineinander. Aus der grauen Suppe tauchen hier und da Dornbüsche auf , verkümmerte Kiefern , zwergwüchsige Lärchen , das abgerissene Volk des Eiskönigs. Er malt sich aus , was geschieht , wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit nicht wieder hinausfinden aus dieser Ödnis: Vielleicht ist es der Tod. Er hat keine lange Hose , keinen Pullover im Rucksack , nur die Windjacke. Nachts herrschen hier Temperaturen um den Gefrierpunkt. Er versucht , die Angst wegzuschieben , sich in die Rolle eines Abenteurers hineinzuphantasieren , der eine unbekannte Passage entdeckt und als Held zurückkehrt. Jedesmal , wenn er den Blick vom Boden hebt und Rasche mit seinen strähnigen Haaren , sehnigen Beinen vorausstapfen sieht , spürt er Zorn.
Rasche wird von allen bewundert und gefürchtet für seine riskanten Touren. Einige wollen deshalb auf keinen Fall zu ihm , andere unbedingt. Er ist der einzige von den Gruppenführern , der die Ruine der Bürkihütte anläuft , wegen der phantastischen Aussicht und weil er Spaß daran hat , Leute zu schinden. Eigentlich liegt sie zu hoch und zu weit entfernt für einen Tagesmarsch. Früher war sie der Beginn einer vielbegangenen Route zum Gipfel des Krummsteigs. Dann ist sie einem Felssturz zum Opfer gefallen. Seitdem befinden sich die Reste der Hütte auf einem Zwischengipfel ohne Wasser. Auf der Kuppe ist alles abgestorben. Teile des Hüttendachs sind eingestürzt , die Scheiben eingeschlagen , überall Müll.
Ebenso unerwartet wie sie in den Nebel geraten sind , stehen sie plötzlich in der prallen Sonne mit freiem Blick auf das Tal. Über ihnen stahlblauer Himmel , beängstigend leer , kein Vogel , keine Flugzeuge. Klare Sicht Richtung Osten , dazu scharfer Wind. Ringsum nacktes Geröll , das auf eine sechzig oder hundert Meter hohe Felswand zuführt. Oben ragen Teile des ausgebleichten Holzbaus auf. Rasche sieht triumphierend in die Runde , sagt: »Das nächste Mal glaubt ihr mir gefälligst.«
Linkerhand führt eine ausgetrocknete Wiese in eine weitere Verästelung des Tals , endet an der zerklüfteten Front des Gletschers. Eine Herde schwarz-weißer Ziegen , die den Sommer über halbwild auf den abgelegenen Almen leben , rennt mit klingelnden Glocken den Hang hinunter.
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