Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
für sich. Dann ein Ruck. Nicht einmal eine Handbreit vor dem Absturz löst sich in seinem Oberschenkel eine Kraft , schlägt durch bis in die Füße und wirft ihn mit einem einzigen Satz den entscheidenden Meter hinauf.
Dreizehn
Sie geht dicht neben ihm , stößt gegen seine Schulter , hüpft vor , weil sie etwas entdeckt hat , eine Bewegung , ein Rascheln , von dem sie denkt , daß es ein Tier ist , vielleicht ein Murmeltier , dreht sich um , lacht ihm zu , legt die Hand in die Hüfte , neigt den Kopf zur Seite , ruft: »Hast du schon mal Gemsen gesehen? – Ich meine hier , in freier Wildbahn?«
Die kleinteiligen Blüten auf dem flatternden Kleid , etwas wie Vergißmeinnicht , abwechselnd hellgelb und rosa , flirren in der Sonne , den Körper darunter kann man nur ahnen. Sie tritt einen Schritt aus dem Licht in den Schatten einer Gruppe Kiefern. Der Stoff wird von hinten angestrahlt , erscheint beinahe durchsichtig , als hätte sie nichts oder höchstens einen Überwurf aus Gaze an. Die Schenkel kraftvoll , rund wie bei den Göttinnen im Lateinbuch , aber nicht steinern , lebendiges Fleisch , warm und nachgiebig. Es beginnt zu kribbeln , von Kopf bis Fuß. Zum Glück trägt er die Sonnenbrille. Sie kann ihm nicht von den Augen ablesen , daß er eine Erscheinung hat , verwirrt ist vor Staunen , Schönheit , in eine Gefühlslage gleitet , die weit über Verliebtsein hinausgeht.
Ursula-Ulla schlägt mit der Hand vor ihrem Gesicht ins Leere , um Insekten wegzuscheuchen.
»Hast du?«
»Was?«
»Gemsen gesehen?«
»Sogar Steinböcke.«
»Dies Jahr auch schon?«
»Steinböcke vor drei Tagen bei der Thronhütte , Gemsen schon mehrmals.«
»Gemsen finde ich hübscher. Sind sie so süß wie auf den Bildern?«
»Kommt darauf an.«
Es ist der freie Tag nach der Großtour auf die Haselinspitze – alle können tun , was sie wollen. Die Haselinspitze war Carls zweiter Viertausender – wieder nur Gletschertreterei , wie Rasche sagt. Er ist trotzdem stolz , es geschafft zu haben. Guntram und er waren die jüngsten , die mitgehen durften. Er spürt die Anstrengung der vergangenen Tage mit jedem Schritt , die Muskeln schmerzen: vorgestern tausendfünfhundert Höhenmeter , davon vierhundert Klettern im nackten Fels , die kurze Nacht im Matratzenlager der Thronhütte auf dreitausend Metern , dann ab vier Uhr morgens der Aufstieg zum Gipfel , anschließend fünfeinhalb Stunden zurück ins Tal.
Sie haben sich den freien Tag verdient , hat der Präses in der Frühmesse gesagt , eine phantastische Leistung , die sie gemeinsam vollbracht haben.
»Und so viele Schmetterlinge. Ich mag am liebsten die kleinen blauen.«
»Es gibt eine Lichtung im Wald bei Kahlenbeck , wo man auch manchmal Bläulinge sieht. Andere Arten als hier , aber auf den ersten Blick kann man sie kaum unterscheiden.«
Er weiß nicht , wie er es hinbekommen hat , daß er jetzt mit ihr hier alleine ist. So viele unwahrscheinliche Zufälle haben sich miteinander verschränkt , daß es undankbar ist , überhaupt an Zufall zu denken. Er hat seine Pläne verschleiert , aber da er Ursula-Ulla nicht bitten wollte , den Ausflug geheimzuhalten , grenzt es an ein Wunder , daß niemand etwas mitbekommen hat. Weder hat einer Bemerkungen gemacht , noch wollte sich jemand anschließen. Nur Andrea weiß Bescheid. Guntram , der den freien Tag gern mit ihm verbracht hätte , konnte er mit Ausreden hinhalten , bis Pille Löser und Martin Kriens ihn gefragt haben , ob er mit ihnen zur Lärschalp wolle , wo man euterwarme Kuhmilch trinken und Ziegenkäse aus der Hofkäserei essen kann. Auch der Präses hat keinen Verdacht geschöpft. Und Carina sind sie losgeworden , weil Schwester Adelgundis ihr ausgemalt hat , wie schön es wäre , wenn sie zusammen mit der Panoramabahn nach Sankt Raban führen , die Gondel zum Morgnergrat hinauf nähmen und im Gletschercafé Eis äßen.
Vor allem aber ist Rasche nicht da.
Alle gehen davon aus , daß Ursula-Ulla etwas mit Rasche angefangen hat oder anfangen wird. Nur Carl nicht. Er hat es geschafft , ihr Vertrauter zu werden. Ihm schüttet sie ihr Herz aus. Das ist nicht das Endziel , aber ein erster Schritt. Rasche hat die Chance ausgeschlagen , mit ihr allein zu sein. Er wollte lieber die Thronbesteigung versuchen. Obwohl heute der einzige freie Tag vor der Heimreise ist , hat er bei seiner Entscheidung keine Sekunde gezögert und auch ihr gegenüber nicht den geringsten Zweifel gelassen , daß der Thron Priorität hat. Statt sie nach
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