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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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Seil plötzlich die Spannung. Er fiel hintenüber , rollte ein Stück abwärts , konnte sich aber fangen. Das Seil muß über eine Eiskante oder einen scharfen Felsen gerutscht sein , jedenfalls war es durchgeschnitten worden. Die sahen uns natürlich und haben gerufen , aber was sie sagten , ging im Sturm unter. Wir hätten ohnehin nichts tun können: Die ganze Flanke , die du von hier unten als weiße Fläche siehst , besteht aus übereinandergeschichteten Wächten , von denen jederzeit , besonders im Sommer , riesige Stücke als Lawine abgehen können: mehrere hundert Meter tief und ungebremst. Pirmin Andermatten , den wir als Bergführer hatten , war saumäßig wütend: › Was haben diese vermaledeiten Schafsköpfe da überhaupt verloren? ‹ , hat er geschrien. › So ein Irrsinn , diese Route zu nehmen! Das ist Selbstmordum diese Jahreszeit. ‹ «
    »Und ist dann ein Hubschrauber gekommen?«
    »Woher denn? Außer uns hatte den Absturz ja niemand gesehen. Wir haben fünf Stunden gebraucht , bis wir zurück an der Ehmarnhornhütte waren. Der Hüttenwart hat sich zwar mit der Bergrettung in Verbindung gesetzt , winkte aber auch ab und wiederholte nur , was Pirmin gesagt hatte. Bei dem Wetter kannst du keinen Hubschraubereinsatz fliegen , und nachsteigen geht auch nicht. Das ist nicht so , wie du dir das vorstellst , zehn Mann mit Tirolerhut und dickem Bernhardiner , der ein Schnapsfaß um den Hals hat – vergiß es. Stunden später sind die beiden anderen Amerikaner dann in der Hütte eingetroffen. Sie haben es tatsächlich geschafft , obwohl das Seil einem von ihnen zwei Finger abgetrennt hat. Es war ein Wunder , daß sie überlebt haben.«
    »Sie hatten nicht einmal Steigeisen , hat Heinz-Bernd erzählt.«
    »Es gibt Leute , die versuchen es in Turnschuhen dort hoch. Völlig wahnwitzig.«
    »Und der dritte?«
    »War tot.«
    »Wurde der dann später geborgen?«
    »Man spaziert nicht mal eben so auf eine Wächte , um einen Toten zu bergen …«
    »Das stelle ich mir schlimm vor für die Familie , daß es gar kein Grab gibt.«
    »Eines Tages spuckt der Gletscher die Leiche wieder aus. Kann dreißig Jahre dauern oder hundert oder noch länger. Hängt davon ab.«
    »Letztes Jahr haben sie am Anderhorn einen gefunden , der 1880 abgestürzt ist , mit Ausrüstung , komplett erhalten. Tiefgefroren halt« , sagt Carl.
    »Wie gesagt , das mitanzusehen , wie der auf einmal verschwunden war , und zu wissen – du weißt das in dem Moment – , daß er jetzt tot ist , das war echt hart.«
    »Und trotzdem willst du wieder so etwas machen?«
    »Klar.«
    »Ich war letzten Sommer zum ersten Mal auf einem Viertausender.«
    »Azzalispitze , oder?«
    Carl nickt.
    »Einer der einfachsten. Da kann man in großen Seilschaften hoch. In erster Linie brauchst du gute Kondition. Ist endlose Gletschertreterei.«
    »Ich bleibe lieber im Tal. Hier gibt es doch so viel Schönes zu entdecken , Blumen und Schmetterlinge , viel mehr als dort oben. Da sind nur Eis und Fels. Bei schlechtem Wetter hat man nicht einmal eine tolle Aussicht.«
    »Über viertausend Metern sind die Wolken fast immer unter dir. Aber es geht bei der Bergsteigerei sowieso um etwas anderes. Es hat mehr mit dir selber zu tun. Wenn du in diese Grenzbereiche gehst , bekommst du eine Vorstellung davon , wer du bist , was du hier machst , auf der Welt , in deinem Leben. Da hat Roghmann schon recht. Auf dem Gipfel sind all deine Fragen beantwortet , beziehungsweise: Es gibt überhaupt keine Fragen. Zumindest nicht so lange , bis du wieder unten bist.«
    »Letzten Sommer , als ich zum ersten Mal auf einem Gletscher …« , setzt Carl an und bricht ab , weil er einsieht , daß er Rasche nichts , aber auch gar nichts entgegenzusetzen hat , solange es ums Bergsteigen geht.
    Nebel , waberndes Grau , keine zwanzig Meter Sicht. Beklemmung. Als wären sie ohne Erlaubnis in das Gebiet des Herrschers über das ewige Eis eingedrungen , der sie zur Strafe oder aus Bosheit für ihren Hochmut erst in die Irre führt und dann vernichtet. Sie marschieren Rasche hinterher , jeder Schritt ein Sieg über die eigene Erschöpfung , wachsende Mutlosigkeit. Es bleibt nur der Versuch , sich durchzuschlagen. Carl würde am liebsten aufgeben , sich hinsetzen , hinlegen , liegen bleiben , nie mehr aufstehen. Fühlt sich schuldig: wegen des drohenden Siegs der Schwäche über den Willen. Keiner hatte mit dem Kälteeinbruch gerechnet. In der Vorhersage war von einer stabilen Hochdruckwetterlage die Rede

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