Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
Handvoll: »Probier mal.«
Sie schaut ängstlich: »Bist du sicher , daß man die essen kann?«
»Sind Heidelbeeren , auch Blaubeeren genannt. Esse ich seit Jahren hier.«
Er nimmt sich selber , streckt ihr die Zunge heraus.
»Ganz lila.«
»Daran erkennt man echte Blaubeeren.«
Endlich traut sie sich , kaut langsam , schmeckt vorsichtig: »Unheimlich süß.«
»Auch ein Zeichen , daß sie nicht giftig sind.«
»Wieso?«
»Gift schmeckt immer bitter oder sonstwie eklig.«
Sie hocken nebeneinander , zupfen Beeren von den Sträuchern , haben blaue Finger , lecken sie ab. Hoch über ihnen die Schreie von Bussarden , die sich in weiten Bögen den Himmel hinaufschrauben. Vielleicht ist ein Adler dabei. Weiter vorn zwischen den Sträuchern Teile der alten Steinmauer , an der das Waldstück endet.
»Komm mit« , sagt er , »wir können später noch mehr Beeren essen , jetzt zeige ich dir das Paradies.«
Der Weg endet an einem Törchen , das halb aus den Angeln gebrochen ist. Es kippt ihnen vor die Füße , als Carl es beiseiteschieben will. Rostiges Eisen , morsches Holz. Sie steigen darüber hinweg , stehen auf einer Wiese , die an drei Seiten von Wald und niedrigen Mauern umgrenzt ist. Geradeaus führt ein Durchgang in einen dichter bewachsenen Teil. Rechts hinter einer Hecke beginnt das Geröllfeld , das zum Fuß der Steilwand führt. Wasser bricht aus dem Fels , stürzt senkrecht herab.
Carl weiß nicht , weshalb das Gelände aufgegeben wurde. Als hätte jemand einen Zauber verhängt , der nur noch Auserwählten den Zutritt erlaubt. Nicht einmal Heu wird geerntet. Alle Arten Wildblumen wachsen. Carl erkennt Türkenbund und Frauenschuh. Im Schatten eines gewaltigen Felsblocks , der vor Jahrzehnten , wenn nicht Jahrhunderten eingeschlagen ist , stehen drei aufgegebene Schober oder Ställe. Das Wasser läuft aus einem alten Rohr in einen halbierten , ausgehöhlten Eichenstamm , sein Überlauf mündet in einen schmalen Kanal , der quer durch die Wiese fließt , unter der Mauer im Wald verschwindet.
»Gott , ist das schön« , sagt sie , läßt sich fallen. Das Gras ist frisch und weich. In ihrem Blumenkleid scheint sie ein Teil davon zu werden. Er setzt sich neben sie , sagt: »Riechst du das? Ich kenne keinen Ort , wo es so gut riecht.«
»Stimmt.«
»Seit ich zum ersten Mal hier war , kann ich mir vorstellen , wie Adam und Eva sich gefühlt haben , als sie begriffen , daß der Garten Eden ihr Platz ist , eigens für sie erschaffen , wo sie ohne Sorge sein können.«
»Warum wohnt hier niemand?«
»Die Leute haben Angst. Es gibt immer mehr Steinlawinen , Felsstürze , weil diese Scheiß-Skifahrer überall neue Pisten bekommen , damit sie auch im Sommer die Berge runterrasen können. Und wegen der Erderwärmung. Die Gletscher schmelzen ab , das hat seine Auswirkungen auf …«
»Ach , ich will jetzt gar nicht so pessimistisch sein.«
Er beißt sich auf die Zunge.
»Schau mal da hinten« , sagt er und deutet auf einen Baum voller Früchte. »Sind Pfirsiche.«
»Die hätte sogar ich erkannt.«
»Und es ist uns erlaubt , sie zu essen. Jedenfalls solange bis irgendein Bergbauer es verbietet.«
»Meinst du , da kommt einer?«
»Ich habe hier noch nie jemanden gesehen.«
»Unglaublich , daß es so einen Platz wirklich gibt« , sagt sie und lächelt , während sich von fern ein anderer Gedanke einschleicht. Plötzlich wird ihr Gesicht fahl , der Blick fällt ins Bodenlose , sie stiert ins Gras. Carl ahnt , was kommt , wünscht Rasche einen Augenblick lang ernsthaft den Tod , reißt sich zusammen: Rasches Egoismus ist das Beste , was ihm passieren kann: »Hast du eigentlich noch mal mit …«
Er denkt › Rasche ‹ , aber für sie ist er ein anderer: »Hast du noch mal mit Jan gesprochen , bevor wir gegangen sind , vorgestern?«
Sie nickt.
»Willst du darüber reden?«
»Aber für dich … Für dich muß es komplett bescheuert sein , wenn ich hier sitze und dir den Tag und diesen wunderschönen Ort , den du extra für mich ausgewählt hast , damit vermiese , daß ich dir die Ohren volljammere mit meinen Problemen , zumal du Jan nicht einmal … – Du magst ihn nicht besonders , oder?«
»Ich kenn’ ihn schon lange. Unterwegs , gerade auch unter extremen Bedingungen kann man sich absolut auf ihn verlassen , da ist er wirklich in Ordnung. Wenn er nicht gerade seine bösartigen fünf Minuten hat. Natürlich macht er Fehler , aber im großen und ganzen bin ich gern mit ihm auf Tour. Und ich mag es ,
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