Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
was dazu führt , daß er dich erst recht verachtet.«
»So geht es mir ständig.«
»Ich glaube nicht , daß du damit glücklich sein wirst. Auf die Dauer.«
Trotz der Vögel , des Panoramazugs , der in der Ferne vorbeifährt , des Wassers , das die Wand herunterstürzt , ist es plötzlich ganz still. Carl hört ihre Atemzüge. Sie werden ruhiger. »Wie schön , daß wir uns gefunden haben« , sagt er , »und daß wir so reden können , ohne daß einer dem anderen etwas beweisen muß.«
Er sieht sie an. Es dauert lange , bis sie es merkt , vom Boden aufschaut. Sie legt eine Hand auf seinen Unterarm , sagt: »Mein kleiner großer Bruder.«
Ihre Augen in seinen. Was wäre , wenn er sie jetzt tatsächlich küssen würde? Einfach so. Als täte er das Selbstverständlichste von der Welt. Sie sind einander so nah , wie es geht im Augenblick , für heute. Er ist weiter gekommen , als er es am Morgen hat hoffen können – als er realistischerweise gehofft hat. Er muß Geduld haben.
Sie neigen sich einander zu , bis ihre Stirn an seine stößt. Jetzt sollte der Berg explodieren , sie in glühender Lava einschließen , daß sie sich nie wieder auseinanderbewegen können.
»Hättest du etwas dagegen , wenn ich dich Ulla nenne? Ich finde , Ulla paßt viel besser zu dir als Ursel oder Usch …«
Carl kann kaum glauben , daß er sie das gefragt hat , fürchtet sich vor der Antwort.
»Niemand sonst nennt mich so« , sagt sie. »Ich fände es schön , glaube ich , wenn nur du mich so nennen würdest.«
Er kommt die Einfahrt herauf , hat für die Rückreise eingekauft , sein Rucksack ist schwer , Landjäger , Käse , Brot , Malzbier , geht am Bus vorbei , der seit dem Vormittag dort steht. Trauer macht sich breit , Abschiedsschmerz , obwohl sie erst morgen fahren. Was wird aus Ulla und ihm , wenn sie in Mariendorn ist , sich zur Krankenschwester ausbilden läßt und er in Henneward oder Kahlenbeck festsitzt , beide ohne Auto? Es kann Wochen dauern , bis er sie wiedersieht , wenn überhaupt , und wie wird es sein? Er paßt so wenig in ihre Welt wie sie in seine.
Spitze Schreie , gefolgt von Gelächter. Dann nichts mehr. Neue Schreie , neues Gelächter , Rascheln , Rumpeln. Es dringt oben aus dem Innern des Heuschobers , klingt ausgelassen , als würde eine Frau gekitzelt , in die Seite gezwickt , immer wieder versuchen , sich zu entwinden. Ein Kampf , ein Spiel. Fangen , verstecken – gefunden , überwältigt werden. Es ist ihre Stimme , die Stimme des Mädchens , der Frau , die er jetzt Ulla nennt. Vielleicht rollzt sie mit ihrer Schwester: Sie lassen sich vom oberen Boden auf den unteren fallen , wo das Heu zwei Meter hoch liegt und nach Wildnis und heimlicher Liebe riecht. Obwohl der Bauer es nicht wünscht , klettern alle hinein , liegen dort , hängen Traumbildern nach. Martin Kriens und Pille Löser sollen schon dort übernachtet haben. Vielleicht stimmt es auch nicht. Wieder lautes Lachen , eine Hand wird in der Öffnung sichtbar , nur kurz. Von der Schwester ist nichts zu hören. Er nimmt die Stufen zur Verladerampe hinauf , dort liegt Rasches Gitarre , daneben der Ordner mit den Noten. Er hört Rasche lachen: »Wenn du es mir nicht freiwillig gibst , hol’ ich es mir.«
»Ich habe es nicht , es ist weg , irgendwo hier.«
Carl klettert die Sprossen zum Einstieg hinauf , im selben Moment ein Kreischen. Er sieht Rasche , der sich auf Ulla geworfen hat , beide rollen durchs Heu. Sie schafft es , sich auf den Bauch zu drehen , ihre Hände unter sich zwischen die Brüste gepreßt. Rasche kniet über ihr , sinkt ein , faßt sie an den Schultern , versucht , sie umzudrehen , sie kreischt: »Carina , hilf mir!«
Carl entdeckt im Halbdunkel Carina , die auf dem Querbalken sitzt , ihre Beine baumeln läßt , das Kinn in die Hand gestützt: »Ich helf’ dir nicht , du bist selber schuld.«
Rasche gelingt es , sie auf die Seite zu drehen. Jetzt sieht sie Carl , ruft: »Carl , dann hilf du mir , er hat mich überfallen. Ich bin unschuldig.«
»Ich warne dich« , sagt Rasche. Es ist ernst gemeint.
II. Die böse Begierde
Vierzehn
»Und womit hast du dich in den Ferien beschäftigt?« fragt Holzkamp.
»Wie gesagt , Bergsteigen …«
»Das wissen wir jetzt. Aber anschließend waren noch drei Wochen übrig.«
»Da ist nichts groß passiert.«
»… im Garten gesessen und deiner Mutter beim Abwasch geholfen?«
»Sachen in die Spülmaschine geräumt.«
»Du willst mir also nicht verraten , womit du deine Lebenszeit
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