Wir Kinder der Kriegskinder
und in den frühen Nachkriegsjahren waren belastet: Meine Mutter musste über viele Jahre als Älteste von drei Schwestern ihre depressive Mutter stützen, vor allem, nachdem sich die Familie Mitte der 1950er Jahre zur Flucht aus der DDR in den Westen entschlossen hatte und dort ganz von vorne anfangenmusste. „Flüchtlingsfamilien waren Erfolgsgemeinschaften, für unverarbeitetes Leid gab es dort keinen Platz“, analysierte die Journalistin Sabine Bode in einem Interview für den NDR. Mein Vater war einem traumatisierten und mitunter extrem jähzornigen Vater ausgeliefert, gegen den auch die eigene Mutter machtlos war. Über Gefühle wurde in beiden Familien nicht gesprochen, Ängste waren tabu. Die Beziehungsunsicherheiten, die materiellen und emotionalen Entbehrungen, die meine Eltern als Kinder erfahren mussten, konnten und wollten sie nie bearbeiten – auch später nicht. Dennoch spürte ich als Kind mehr als deutlich die Verletzungen, die sie in sich trugen. Wir Kinder wurden heiß geliebt, waren gleichzeitig aber auch dazu da, um ihnen nachträglich die dringend benötigte, aber nie in ausreichendem Maß erhaltene Liebe zu geben. Wie sonst ist es zu erklären, dass ich schon als Achtjährige bemüht war, meinen vermeintlich starken Eltern eine möglichst verlässliche Partnerin zu sein, sie zu schützen und zu stützen, ihre Wunden zu heilen?
Ich dachte lange, dass die ausgeprägte Angst vor Gefühlen eine schmerzliche Besonderheit meiner Familie wäre. Heute weiß ich, dass meine Familie bei weitem kein Einzelfall ist. Bei der Recherche zu diesem Buch habe ich viele Kinder von Kriegskindern getroffen, die Ähnliches berichten. In den folgenden Kapiteln möchte ich die individuellen Auswirkungen genauer beleuchten, die die Kriegskindheit der Eltern auf das Leben von Männern und Frauen meiner Generation, der ungefähr zwischen 1955 und 1975 geborenen „dritten Generation“ haben kann.
Das Spektrum ist vielfältig: Ich traf Menschen, auf deren Leben die Geschichte der Eltern noch immer wie ein dunkler Schatten lastet. Kinder von Kriegskindern, denen die Sprach- und Gefühllosigkeit in der Beziehung zu den Eltern zu schaffen machte. 40-Jährige, die noch immer der verlorenen Heimat der Eltern hinterhertrauern. Töchter von Kriegskindern, deren Leben geprägt ist von den sexuellen Gewalterfahrungen der Eltern und Großmütter in den letzten Kriegsmonaten. Oft merken wirnicht, wie verstrickt wir noch sind in die Geschichte unserer Eltern – weil sich die Symptome bei uns eben ganz anders zeigen und auch, weil uns das Wissen über die Erfahrungen unserer Eltern fehlt. Inzwischen beginnen viele Kriegskinder aber, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen. Und auch wir, die dritte Generation, haben nun die Chance, eine Auseinandersetzung zu führen mit den Spuren, die der Krieg in unseren Leben hinterlassen hat.
2. Verlorene Heimat
Sich nirgendwo zu Hause fühlen
Noch heute ist die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten ein bisweilen heikles Thema. Auch 60 Jahre nach Kriegsende polarisieren die Ereignisse der letzten Kriegsmonate die Öffentlichkeit noch: Da sind einerseits die Vertriebenenverbände, die ihr Augenmerk überwiegend auf deutsche Opfer richten, Entschädigungen für verlorenen Besitz verlangen und Rückkehrerträume hegen. Und andererseits melden sich diejenigen zu Wort, die befürchten, eine Beschäftigung mit den Erlebnissen der deutschen Vertriebenen führe zwangsweise zu einem neuen Opferdiskurs und somit dem Vergessen der unermesslichen Leiden der vielen Opfer der Nationalsozialisten, allen voran der Holocaust-Überlebenden. Natürlich darf nicht vernebelt werden, dass Flucht und Vertreibung eine konkrete Folge der schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten waren. Dennoch sollten die bisweilen traumatischen Erfahrungen der deutschen Flüchtlinge nicht unter dem Deckmäntelchen der political correctness verschwinden müssen. Seit ein paar Jahren nun scheint es möglich, sich auch den Schicksalen der deutschen Flüchtlinge zuzuwenden. Mittlerweile ist die Beschäftigung mit dem Thema auch in der breiten Öffentlichkeit angekommen: Literatur, Film und Fernsehen bearbeiten zunehmend die Erlebnisse der deutschen Vertriebenen. Manchmal allerdings zeichnen sich diese Produktionen dann weniger durch ihre Differenziertheit als ihre Lust am Drama aus.
Die genaue Zahl der im Zuge von Flucht und Vertreibung umgekommenen Deutschen aus den Ostgebieten ist bis heute
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