Wir Kinder der Kriegskinder
Hauses festzukrallen.“ Die Traumata der vertriebenen Eltern treten oft als Konflikte der Kinder wieder auf – ein Phänomen, das auch viele Psychotherapeuten bei ihrer täglichen Arbeit beobachten: „Elterliche Objektbilder und dazugehörige Affekte werden an Kinder und Enkel weitergegeben und Trauerarbeit, Wiedergutmachung, Wiederbeschaffung von Verlorenem und Abwehr von Ohnmacht an diese delegiert. So entsteht eine von Trauma und Schuld durchdrungene, tabuisierte und nebulöse Atmosphäre. Meist wird aber nicht bewusst reflektierend, sondern handelnd erinnert“, erklärt der Psychoanalytiker Bertram von der Stein (von der Stein: ‚Flüchtlingskinder‘: Transgenerationale Perspektive von Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs bei Nachkommen von Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten). Die Kinder von Vertriebenen wehrten die elterlichen Verlustgefühle oft ab, indem sie die unbewussten Wünsche der Eltern nach Wiedergutmachung zu erfüllen versuchten. Deswegen fiele es ihnen häufig schwer, sich von den Eltern zu lösen, erklärt er weiter.
Von einem akuten Gefühl der Heimatlosigkeit, einer anhaltenden Suche nach einem „sicheren“ Ort und einer symbiotischen Verstrickung in die Geschichte der Eltern und Großeltern berichten drei meiner Gesprächspartner in diesem Kapitel. Sie alle mussten schmerzliche Erinnerungsarbeit leisten, um ihre Familiengeschichten und deren Folgen für die eigene Entwicklung aufarbeiten zu können. Heute nehmen sie ihre Befindlichkeit, ihr Gefühl von Wurzellosigkeit als Produkte ihrer familiären Verstrickungen wahr. Sie haben gelernt, damit umzugehen. Dochtrotz der Hemmungen und Einschränkungen, die sie aufgrund der Verlusterfahrungen der Eltern noch in sich spüren, führen sie alle inzwischen ein zufriedenstellendes Leben. Sie haben Partner, Kinder, erfüllende Berufe – das Trauma sitzt nicht so tief, als dass ihr Leben von der Vergangenheit dominiert wäre. Mit Ressentiments oder Wiedergutmachung kann keine von ihnen etwas anfangen. Bei ihnen beginnen die Wunden langsam zu heilen.
„Ich fühlte mich verpflichtet – wenn nicht ich, wer sonst?“
Tanja ist 34 Jahre alt und stammt aus der Kleinstadt Geislingen auf der Schwäbischen Alb. Obwohl dort geboren und aufgewachsen, fühlt sich die Diplompsychologin in Geislingen nicht heimisch. „Ich bin kein echtes schwäbisches Kind“, erklärt sie. „Ich kann zwar schwäbeln, aber das richtig breite Schwäbisch, das spreche ich nicht. Ich trage eben auch böhmisches Blut in mir.“ Tanjas Eltern sind Vertriebenenkinder aus dem ehemaligen Sudetenland, einem Gebiet im tschechischen Teil der damaligen Tschechoslowakei, das vor 1945 noch von 3,2 Millionen Deutschstämmigen bewohnt wurde. Nach Kriegsende wies die tschechoslowakische Regierung drei Millionen von ihnen nach Deutschland aus. Wie Tanjas Vater, 1926 geboren. Er stammt aus einem kleinen Dorf nahe Brünn, das Ende 1946 per Zug komplett zwangsausgesiedelt wurde: In Geislingen koppelten die deutschen Beamten den Waggon mit den Dorfbewohnern ab, woraufhin sich das ganze Dorf gemeinsam in der schwäbischen Kleinstadt niederließ. Seitdem existiert dort eine große Gemeinschaft ehemaliger Sudetendeutscher. Tanjas Mutter ist 1930 geboren und kommt aus dem kleinen Ort Haid nahe der deutschen Grenze. Sie floh 1948 mit ihrer Familie nach Bayern und landete als junge Frau berufsbedingt in Geislingen, wo sich die Eltern dann kennenlernten.
Tanja identifiziert sich noch heute stark mit der Heimat der Eltern und fühlt sich sehr zu Tschechien hingezogen. Auch ihr älterer Bruder begann vor kurzem, Tschechisch zu lernen. „Von meiner Mutter wird das nicht unbedingt gutgeheißen“, erklärt Tanja. „Die vertriebenen Deutschen denken ja meist, sie wären beraubt worden und würden am liebsten alles zurück haben. Ich denke: Die Deutschen haben den Krieg angefangen undunglaublich viel Elend angerichtet. Unsere Vertriebenenschicksale sind Einzelschicksale. Damit müssen wir leben.“ In der alten Heimat der Mutter war Tanja schon oft: Mindestens alle zwei Jahre fährt sie mit ihrer Mutter und ihren älteren Brüdern nach Haid. Auch das Dorf des inzwischen verstorbenen Vaters hat sie schon gesehen. „Das war allerdings merkwürdig“, erzählt sie. „Als wir dort ankamen, sagte mein Vater ständig: In dieser Straße wohnte der X und hier entlang wohnte der Y. Und ich kannte diese Leute alle. Bis mir klar wurde, dass sie alle gemeinsam nach Geislingen gebracht worden
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