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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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waren.“
    Tanja fühlt sich vor allem mit der Geschichte ihrer Mutter verbunden. Noch heute legt diese großen Wert darauf, die Traditionen ihrer Region Egerland im Sudetenland zu pflegen. Seit Tanja ein Kind ist, fährt sie jedes Jahr mit Mutter und Tante zu den Heimattreffen des Örtchens Haid in der Patenstadt Haids in Bayern. Zu diesem Anlass trägt Tanja die Originaltracht ihrer Großmutter. „Das ist besonders kostbar für mich“, erklärt sie. „Ich fühle mich dann auch nicht verkleidet.“
    Gemeinsam mit Mutter und Tante hat sie auch schon Egerländer Trachten nach alten Mustern gefertigt, Röcke genäht, Strümpfe gestrickt und Samtlaibchen bestickt. Auch der traditionellen Egerländer Musik fühlt sie sich verbunden: Manchmal spielt sie mit ihrem Onkel bei den Heimattreffen alte Egerländer Stücke mit Geige und Dudelsack. Gleichwohl steht sie den Vertriebenen oft skeptisch gegenüber: „Wenn dann bayerische Politiker kommen, Reden halten und die alten Leute regelrecht aufhetzen, dass sie ihr Eigentum zurückerhalten sollen ... dann ärgert mich das jedes Mal“, erzählt sie. „Warum sollen die Alten jetzt noch eine Entschädigung bekommen? Es wäre besser, sie würden endlich ihren Frieden mit der Geschichte schließen.“ Auch ihre Mutter habe viele Ressentiments, vor allem gegenüber Ausländern, berichtet Tanja. Sie selbst kann das nicht verstehen: „Meine Mutter hat am eigenen Leib erfahren, wie schlimm es ist, wenn man als Flüchtlingsmädchen nicht mit offenen Armenempfangen wird – und doch schimpft sie ständig über die Polen, die Russen, die Juden, die Türken, die Italiener. Sie kann ihr eigenes Schicksal leider nicht auf das anderer Leute übertragen. Das ist für mich nicht nachvollziehbar.“ Bei den Heimattreffen ist Tanja meist die Einzige aus der Nachfolgegeneration. Nicht alle verstehen, warum sie das überhaupt macht. „Ich erlebe immer wieder, dass ich mich vor Freunden dafür rechtfertigen muss“, erklärt die Psychologin.
    Sie findet jedoch, dass das Familientrauma des Heimatverlusts auch sie betrifft. Schon allein deshalb, weil ihre Eltern viel Kraft investieren mussten, um in der Fremde ein neues Leben aufzubauen – im Gegensatz zu vielen ihrer Geislinger Freundinnen, deren Familien schon seit Jahrhunderten auf der Schwäbischen Alb leben, in Häusern, die von Generation zu Generation weitergereicht wurden. Tanja kritisiert, dass viele Menschen einfach kein Gefühl dafür hätten, was es heißt, in der Fremde neu anzufangen. Sie selbst jedoch habe in der eigenen Familie erfahren können, wieviel Leid dies anrichten kann.

    Obwohl Tanja ihre Mutter als fröhliche und lebensbejahende Frau beschreibt, muss sie deren tiefe Trauer über den Verlust der Heimat doch bereits als Kind sehr genau verspürt haben. Sie würde sich sonst wohl kaum so anstrengen, die längst vergangene Zeit durch ihre Besuche der Heimattreffen, das Tragen der Trachten und das Musizieren lebendig zu halten. Wiedergutmachung und Wiederbeschaffung von Verlorenem – das sind mütterliche Aufträge, die an Tanja als einzige Tochter und Nesthäkchen unbewusst weitergegeben wurden. Und die sie auch bereitwillig annimmt, um ihrer Mutter Freude zu machen. Tanja hat es auf sich genommen, die familiäre Geschichte und Identität am Leben zu erhalten, damit der Abschied nicht ganz endgültig ist. Gleichwohl weiß sie nicht, ob sie all das noch machen würde, wenn ihre Mutter nicht mehr am Leben wäre. „Meine Motivation, zum Heimattreffen mitzugehen, ist nicht ganz freiwillig“, gibt sie zubedenken. „Doch wenn ich meine Mutter nicht fahren würde, würde sie da auch nicht hinkommen. Und wenn ich schon mal da bin, ziehe ich auch die Tracht an.“
    Doch auch für sie selbst scheint das Treffen wichtig zu sein: Um ihre Mutter dorthin bringen zu können, nimmt Tanja einmal im Jahr den 800 Kilometer langen Weg von ihrem Wohnort Hamburg nach Geislingen auf sich. Sie fühlt sich trotz der räumlichen Distanz zur Mutter sogar verpflichtet, sich als Mitglied der Nachfolgegeneration für den Erhalt der Egerländer Traditionen einzusetzen: „Um die Musik, die Mundart und die Trachten muss sich doch jemand kümmern, wenn die Alten sterben“, erklärt sie. „Wenn nicht ich – wer sonst? Aber hier in Hamburg gibt es keine Egerländer Musikgruppen, ich weiß also nicht, wie ich das bewerkstelligen soll.“

    Mutter und Vater gingen sehr unterschiedlich mit dem erlittenen Heimatverlust um. Der Vater äußerte nie

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