Wir Kinder der Kriegskinder
ungeklärt. Schätzungen des Deutschen Historischen Museumszufolge ist von mindestens 600.000 Todesopfern auszugehen. Insgesamt waren etwa 14 Millionen Deutsche und Deutschstämmige zwischen 1944 und 1950 von Flucht und Vertreibung betroffen. Zuvor hatte die deutsche Besatzungsmacht im Osten über Jahre brutal geherrscht: Bereits 1941 hatte Hitler den „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“ verabschiedet, demnach deutsche Soldaten sowjetische Zivilisten ermorden durften, ohne dass ihnen eine Strafe dafür drohte. Insgesamt 25 Millionen Tote hatte die Sowjetunion bei Kriegsende zu beklagen, über 1.700 Städte und 70.000 Dörfer hatte die Wehrmacht zerstört. Das Pendel der Gewalt schlug auf die deutsche Zivilbevölkerung im Osten zurück.
Zur ersten Welle von Evakuierungen und Fluchtbewegungen kam es im Herbst 1944, als die Rote Armee im Süden nach Rumänien, Jugoslawien, Ungarn und im Norden nach Ostpreußen eindrang. Von den 1,5 Millionen Volksdeutschen, die nach den vorangegangenen Umsiedlungen dort lebten, gelangten nur etwa 400.000 aufs Reichsgebiet. Wenige Wochen später schnitt die sowjetische Großoffensive Ostpreußen ab und drang nach Oberschlesien, Ostbrandenburg und Pommern ein – eine Massenflucht begann. Aufgrund der Durchhalte-Propaganda der Nationalsozialisten wurden Vorkehrungen zur Evakuierung jedoch meist viel zu spät getroffen, so dass die überstürzte Flucht während des kalten Winters zum Desaster wurde und viele Menschen – gerade Kindern und Alten – das Leben kostete.
Ein Sonderkapitel bildet das Schicksal der rund 3,3 Millionen Sudetendeutschen: Hier konnten tschechische Aufständische noch kurz vor Kriegsende die lokale Gewalt übernehmen, da Böhmen und Mähren erst unmittelbar vor und nach der Kapitulation von der Roten Armee besetzt wurden. Nur ein kleiner Teil der Deutschen konnte entkommen, so dass die große Mehrheit den Vergeltungsaktionen der tschechischen Bevölkerung ausgeliefert war.
Insgesamt wurden mehrere Hunderttausende deutsche Siedler aus den Ostgebieten nach dem Krieg in Lagern inhaftiert odermussten – teilweise jahrelang – Zwangsarbeit leisten. Bis 1950 wurden in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich etwa 12 Millionen Ost- und Sudetendeutsche aufgenommen. Einige Länder, wie Mecklenburg-Vorpommern, verdoppelten dadurch ihre Einwohnerzahl. Andere gewachsene Regionen wie Oberbayern und die Lüneburger Heide mussten plötzlich Bevölkerungsgruppen integrieren, die eine ganz andere Konfession und einen ganz anderen Lebensstil hatten. Nicht überall wurden die Vertriebenen mit offenen Armen empfangen. Viele Flüchtlinge fühlten sich stigmatisiert, war die lokale Bevölkerung in den meisten Regionen doch wenig begeistert von den neuen Nachbarn. Bisweilen kam es zu ganzen Stadt- und Ortsneugründungen.
Für die Vertriebenen war die Integration oft alles andere als einfach. Es galt, wieder bei Null anzufangen und ein neues Leben aufzubauen, oft noch mit den schrecklichen Fluchterfahrungen im Nacken. Häuser wurden gebaut, Kinder geboren, Firmen gegründet: Zum Aufarbeiten der eigenen Trauer und der Verlusterfahrungen war angesichts dieser Herausforderungen oft nur wenig Zeit. Auch die Kollektivschuld verhinderte eine Beschäftigung mit dem Erlebten. Dennoch blieben die meisten Vertriebenen der verlorenen Heimat schmerzlich verbunden. Denn auch eine noch so gelungene Integration konnte den Verlust vielfach nicht heilen: Geschichten aus der alten Heimat, Mitgliedschaften in Vertriebenen- oder Heimatvereinen oder häufige Reisen in die Vergangenheit zeugen davon.
Dass das Trauma des Heimatverlusts bisweilen bis in die dritte Generation weiterwirkt, möchte ich in diesem Kapitel zeigen. Denn auch die Kinder der Kriegskinder – obwohl in der BRD geboren – fühlen sich der alten Heimat der Eltern bisweilen so verbunden, dass sie es selbst kaum schaffen, Wurzeln zu schlagen. Es bleibt ein Gefühl von Heimatlosigkeit, von mangelnder Zugehörigkeit und die diffuse Empfindung, in der Welt nicht geborgen zu sein. „Kennzeichnend für die meistenVertriebenen und viele ihrer Kinder ist ein Gefühl der Wurzellosigkeit“, schreibt der Historiker Andreas Kossert in seinem Buch Kalte Heimat: Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. „Sie fühlen sich unruhig, getrieben, unfähig, sich irgendwo langfristig niederzulassen. Sie zeigen tendenziell eine hohe Mobilität oder aber – gerade umgekehrt – das zwanghafte Bestreben, sich durch den Bau eines eigenen
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