Wir Kinder der Kriegskinder
möglicherweise auch Schuldgefühle gegenüber der eigenen Familie wegen dieses radikalen Schritts der Abnabelung ... In Tanjas Depression brachen sich diese Ängste Bahn.
Für Tanja war die Krankheit der Beginn einer intensiven Selbstauseinandersetzung und damit auch einer Konfrontation mit der Geschichte der Eltern. Eine Psychotherapie und Medikamente halfen ihr, Schritt für Schritt wieder auf die Beine zu kommen. Sie nutzte die Krise, um ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten und ein gutes Stück voranzukommen.
„Die Therapie hat mir geholfen, mich besser kennenzulernen“, erklärt sie. „Sie hat mich vorwärtsgebracht, ganz allgemein.Reifer und resistenter gemacht.“ Tanja versucht nun, mehr von ihrer Mutter über die Familiengeschichte zu erfahren, um durch das Wissen über ihr Schicksal auch mehr über die eigenen Prägungen zu lernen. Das ist jedoch nicht immer einfach, denn die Mutter ist nicht mehr die Jüngste. „Ich muss aufpassen“, erklärt Tanja. „Ich darf ihr nicht das Gefühl vermitteln: ‚Erzähle mir was von dir, solange du noch lebst – denn bald bist du nicht mehr da, dann kann ich dich nicht mehr fragen.‘ “
„Ich hatte Angst, alles zu verlieren, was ich habe.“
Krieg, Lager, Vertreibung – es gibt zahlreiche leidvolle Erfahrungen in Agnes Familiengeschichte. Diese weit zurückliegenden Erlebnisse werfen lange Schatten. Über Jahrzehnte schweißte das unverarbeitete Trauma die Familie zu einer symbiotischen Schicksalsgemeinschaft zusammen, aus der sich zu lösen kaum möglich schien. So wirken die unverarbeiteten Erfahrungen der Großeltern bis in die dritte Generation hinein. Auch Agnes, 1971 geboren, spürt noch heute Heimatlosigkeit und Verunsicherung in sich. Obwohl ihr Leben rein äußerlich ganz stabil ist: Die Journalistin wohnt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in ihrer Geburtsstadt Ulm.
Agnes’ Familie mütterlicherseits stammt aus einem deutschen Dorf in Serbien, aus einem Gebiet, das man damals Donau-Schwaben nannte. Bereits im 17. Jahrhundert hatten deutsche Bauern im Auftrag der österreichisch-ungarischen Monarchie die überwiegend entvölkerten Gebiete der Donauebene in Serbien, Kroatien, Rumänien und Ungarn zu besiedeln begonnen. Vor Kriegsende lebten dort gut 1,5 Millionen Donauschwaben. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs traten viele von ihnen der NSDA P bei und kooperierten mit der deutschen Besatzungsmacht. Die Rache für die durch die Deutschen erlittenen Demütigungen folgte gegen Kriegsende: Diejenigen Deutschen, die nicht vorher schon geflohen waren, wurden Opfer der Vergeltungsaktionen der kommunistischen Partisanen. So auch Agnes’ Großmutter, 1923 geboren.
Sie hatte Serbien nicht verlassen wollen: Mit ihren erst drei und fünf Jahre alten Kindern traute sie sich die Flucht nicht zu. Außerdem war sie vollkommen auf sich gestellt, denn ihr Mann, 1916 geboren, war verschwunden. Er war der Waffen-SS beigetreten und irgendwo im Osten möglicherweise an denKriegsverbrechen der Nationalsozialisten beteiligt – Genaueres weiß niemand. Schließlich wollte die Großmutter auch die Urgroßmutter nicht allein im Dorf zurücklassen, denn auch der Urgroßvater war kurz vor Kriegsende noch eingezogen worden.
Ende 1944 wurde Agnes’ Großmutter gemeinsam mit anderen jüngeren Frauen aus dem Dorf abgeholt und vor eine russische Kommission gestellt. Kinderlose Frauen und Frauen mit nur einem Kind wurden umgehend nach Russland zur Zwangsarbeit in einem Kohlebergwerk transportiert. Frauen mit zwei oder mehr Kindern brachte man ins serbische Lager Jarek, wo zwischen Dezember 1944 und April 1946 unter elenden Bedingungen knapp 15.000 Deutschstämmige interniert waren. Auch Agnes’ Großmutter wurde zum Arbeitsdienst in Jarek verurteilt. Selbst ihre Kinder und die alte Mutter wurden dorthin gebracht, allerdings in einen entfernten Teil des Lagers. Während die arbeitenden Internierten sich über ihre Arbeitseinsätze noch hin und wieder etwas zu essen beschaffen konnten, waren die Überlebenschancen der Alten und Kinder in dem Lager für nichtarbeitsfähige Internierte äußerst gering: Es gab fast nichts zu essen, so dass mindestens 9.300 der insgesamt 15.000 Inhaftierten bis 1946 an Entkräftung oder grassierenden Krankheiten starben. Auch Agnes’ Großmutter sollte ihre Kinder und Mutter nie wiedersehen. „Meine Großmutter sagt, sie habe ungefähr nach einem Jahr im Lager von einem Bekannten erfahren, dass ihre beiden Kinder und ihre Mutter tot wären“,
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