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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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Heimatgefühle und weigerte sich, auf Treffen von Heimatverbänden zu gehen. Er kam aus einer ärmlichen Familie und hatte keine guten Erinnerungen an seine Kindheit im Sudetenland. „Wenn Geburtstagskarten von seiner Heimatorganisation kamen, hat er sich immer geärgert“, erklärt Tanja. „Er dachte wahrscheinlich: Wenn er dort geblieben wäre, wäre nichts aus ihm geworden.“ Entscheidend für sein Leben war offenbar ohnehin weniger die Vertreibung als die eigenen Kriegserlebnisse: Er wurde als junger Mann eingezogen, kam nach Russland und geriet anschließend in russische Gefangenschaft. Nur selten erzählte er seiner Familie von dieser Zeit: Wie die deutschen Offiziere ihm Schnaps zu trinken gegeben hätten, damit er mehr Mut zum Schießen hätte. Wie er in Gefangenschaft fast verhungert wäre. Er war jedoch nie in der Lage, das Trauma seiner Kriegshandlungen und der anschließenden Gefangenschaft zu bearbeiten und litt Zeit seines Lebens an Depressionen und Alpträumen. „Nachts bin ich manchmal von seinem Schreien aufgewacht“, erinnert sich Tanja. „Dann bin ich zuihm gegangen und habe ihn vorsichtig geweckt. Am nächsten Tag hat er sich dann bei mir bedankt.“ Er war ein schweigsamer und verschlossener Mann, dem Tanja nie richtig nahe kam. Dennoch fühlte sie sich stets verantwortlich für ihre Eltern: den depressiven Vater und die Mutter, die halb in der Vergangenheit lebt. Als Nesthäkchen stand Tanja oft zwischen ihnen und wusste nicht, wem sie nun zuerst ihre Zuwendung schenken sollte. „Das war als Kind nicht leicht“, erinnert sie sich.

    2003 beendete Tanja ihr Psychologiestudium und entschloss sich, nach Hamburg umzuziehen. Der Umzug in die Hansestadt war ein lang gehegter Traum – und ein großer Schritt. Möglicherweise lässt sich in ihm auch ein Stück weit Protest gegen die elterliche Bedürftigkeit und die indirekten Erwartungen der Mutter ablesen. Tanja sehnte sich nach mehr Distanz zu ihrer Familie, in deren Nähe sie stets gelebt hatte. Sie fand einen Job in Hamburg und dachte, nun würde ein ganz neues, anderes Leben beginnen. „Ich wollte erwachsen sein, autonom leben, Spaß haben, in der Großstadt neu anfangen“, erzählt sie. „Ich dachte, heute ist doch alle Welt mobil, das schaffe ich auch.“
    Mit dem Umzug wollte Tanja sich abgrenzen und beweisen, dass sie nicht so war wie die Eltern: wenig weltoffen, wenig mobil, an die Vergangenheit gebunden. Insgeheim wünschte sie sich auch, sich selbst zu beweisen, dass sie niemals den Fehler ihrer Eltern machen würde, ihr Herz an nur einen Ort im Leben zu hängen. „Ich hatte nie verstehen können, dass meine Eltern aus Geislingen nicht wieder wegwollten“, erklärt sie, „weil ich immer das Gefühl hatte, dass gerade ihre Erfahrungen ja beweisen, dass man nirgendwo völlig sicher ist.“
    Doch das Leben in Hamburg war viel schwerer, als sie gedacht hatte. Obwohl Tanja alles dafür tat, sich schnell einzuleben: Sie reduzierte bewusst ihre Kontakte nach Hause und war fast jeden Abend auf Konzerten und Partys unterwegs, um neue Leute kennenzulernen. „Ich habe mich richtig abgestrampelt, umglücklich zu werden, ganz nach dem Motto: ‚ Jeder ist seines Glückes Schmied‘“, erzählt sie. „Doch dabei bin ich immer unglücklicher geworden. Wie ein Hamster im Laufrad kam ich mir vor.“ Es gelang ihr nicht, schnell heimisch zu werden und sich zu beweisen, dass man sich überall einleben könne, wenn man nur wolle.
    Bereits nach zwei Monaten kam der Zusammenbruch. Die Diagnose: Belastungsdepression. „Sobald ich allein war, musste ich nur noch heulen: Auf dem Fahrrad, zu Hause ... egal wo“, erklärt sie. „Ich war dann ziemlich lange krankgeschrieben.“ Sicherlich spielte bei Tanjas Depression die familiäre Vorbelastung durch die depressive Erkrankung des Vaters eine Rolle. Es ist aber wahrscheinlich, dass auch die Flüchtlingsvergangenheit von Tanjas Eltern einen Teil zur Entwicklung dieser Symptomatik beitrug. Als Kind von Vertriebenen fiel es Tanja sicher besonders schwer, die eigenen Wurzeln so radikal zu kappen. In Hamburg spürte sie dann, dass man nicht durch Willensanstrengung heimisch werden kann: In ihr waren noch zu viele Ängste und Unsicherheiten lebendig, um sich ohne größere Probleme an einem gänzlich fremden Ort niederlassen zu können.
    Mangelndes Vertrauen in die Stabilität der Welt um sie herum, ein Gefühl von Heimatlosigkeit und Unverwurzeltsein, die familiären Verlusterfahrungen,

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