Wir Kinder der Kriegskinder
erzählt Agnes. „Man kann sich nicht vorstellen, wie man nach diesen Erlebnissen noch weiterleben kann. Ich vermute, dass sie danach nur noch den Impuls hatte, sich selbst zu retten.“ Im April 1946 wurde das Lager geschlossen, nachdem das Rote Kreuz Druck auf die jugoslawische Regierung ausgeübt hatte. Über Österreich floh Agnes’ Großmutter nach Deutschland und machte über das Rote Kreuz ihre Schwester und ihren Vater in einem Sammellager in Süddeutschland ausfindig. Gemeinsam zogen sie in eine Flüchtlingssiedlung in der Nähe von Ulm, wo 1948 auch der Großvater zu ihnenstieß. Er war erst kurz zuvor aus französischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden und hatte seine Frau ebenfalls über das Rote Kreuz gefunden. Zehn Monate später, 1949, wurde Agnes’ Mutter geboren. Dieses Kind sollte endlich leben.
In Agnes’ Familie wurde über die schrecklichen Kriegserlebnisse nur selten gesprochen. „Mein Großvater war ein sehr verschlossener Mensch, der sich in den Keller an seine Werkbank verzog, wenn ihn etwas belastete. Über die Zeit bei der Waffen-SS weiß ich gar nichts. Er sprach nie darüber und starb auch schon, als ich 16 war“, erzählt Agnes. „Meine Großmutter hat mir viel aus der alten Heimat erzählt. Aber die Lager- und Fluchtgeschichten habe ich als Kind nur aus den Erzählungen der Erwachsenen mitbekommen. Erst als ich größer wurde, habe ich angefangen, selbst nachzufragen. Aber nicht so oft, weil meine Oma anschließend meist Alpträume hatte.“ Agnes ist sicher, dass sie noch viel schlimmere Dinge erlebte, als sie berichtete. „Man erzählt es vermutlich nur so, wie man es aushalten kann“, überlegt sie.
Sie findet es dennoch erstaunlich, wie gut ihre Großeltern trotz der schrecklichen Täter- und Opfererfahrungen funktionierten. Agnes vermutet, dass die Großeltern sich durch Arbeit vor dem depressiven Absturz bewahrten. „Sie haben sich wohl mit sehr viel Disziplin, harter Arbeit und dem materiellen Aufbau eines neuen Lebens aus ihrem Trauma gerettet“, glaubt sie. „Sie hatten ja bei Null angefangen und es dann zum schwäbischen Eigenheimbesitzer geschafft.“
Agnes Mutter litt unter der Bürde der Familiengeschichte. Sie beklagte sich oft, dass sie als Kind vernachlässigt worden sei. „Sie erzählte, dass die Großeltern immer nur damit beschäftigt gewesen wären, Geld zu verdienen und das Haus zu bauen“, berichtet Agnes. „Offenbar wurde sie viel hin- und hergeschoben.“ Von Kindheit an begleitete Agnes Mutter das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Doch sie durfte nicht klagen: Sie hatte überlebt,also musste es ihr gut gehen. Vermutlich spürte sie den Schmerz der Eltern und merkte intuitiv, dass sie diese nicht mit Problemen oder Ängsten belasten durfte. Gleichzeitig aber gelang es Agnes Mutter nicht, sich von ihren Eltern zu lösen: Als sie mit 22 Jahren ungeplant schwanger wurde und die Beziehung zu Agnes Vater wenige Monate nach der Geburt zerbrach, lieferte die Mutter die kleine Agnes jeden Tag bei den Großeltern ab, damit sie weiterhin ihrer Arbeit als Krankenschwester nachgehen konnte. Möglicherweise war Agnes’ Geburt für die Mutter entlastend, denn nun gab es ein weiteres Kind, das den Großeltern über den Schmerz hinweghelfen konnte. Später zog sie mit ihrer Tochter wieder ins Haus der Großeltern ein – so war die Familie erneut unter einem Dach vereint. Unbewusst spürte Agnes Mutter sicherlich, dass sie den Großeltern eine Trennung von ihr, dem einzigen überlebenden Kind, nicht hätte zumuten können. Trennungen waren in dieser Familie ein traumatisches Thema, schließlich hatten die beiden älteren Geschwister infolge einer Trennung ihr Leben lassen müssen.
Agnes spürte die Fragilität ihrer Mutter sehr genau. „Schon als Kind hatte ich das Gefühl, mich um meine Mutter kümmern zu müssen“, erzählt sie. „Weil sie alleinerziehend war und es ihr oft nicht gut ging. Es war ein umgedrehtes Verhältnis: Ich meinte, die Verantwortung für uns tragen zu müssen.“
Agnes glaubt, dass die Mutter bis heute von den Erlebnissen der Großeltern geprägt ist. Seit vielen Jahren ist sie chronisch schmerzkrank. Doch die Mutter lehnt es ab, über die Geschichte ihrer Eltern zu sprechen. „Ich weiß nicht, wie ich sie dazu bewegen soll, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, wo sicherlich viele Gründe für ihr Leiden liegen könnten“, fragt sich Agnes. „Momentan versuche ich, sie zu überzeugen, in eine psychosomatische
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