Wir Kinder der Kriegskinder
eine permanente Abhängigkeit von meiner Großmutter und Mutter gebracht. Diese Vorstellung war für mich so abschreckend, dass ich mich entschied, das Kind nicht zu bekommen.“ Über die Entscheidung abzutreiben, muss Agnes noch heute immer wieder nachdenken – vor allem, seit sie zwei kleine Töchter hat. Letztlich fühlt sich der Entschluss aber nach wie vor richtig an: Agnes ist sich unsicher, ob es ihr sonst gelungen wäre, sich aus der Enge ihrer Herkunftsfamilie zu lösen.
Die 37-Jährige hofft heute, dass sie inzwischen nichts mehr an ihre Kinder weitergeben muss. „Mir ist wichtig, dass sie eine stabile Kindheit erleben, und wir ihnen auch intellektuell eine gewisse Förderung zukommen lassen“, erklärt sie. „Denn weder um meine emotionale Entwicklung noch um meine Zukunft hat man sich besonders gekümmert. Ich habe mir alles selbst erarbeitet. Und das war nicht immer leicht.“
„Ich trage die Heimat nicht in mir.“
„Das Thema Heimat beschäftigt mich seit Jahren“, erklärt Sabine. „Wo gehöre ich eigentlich hin und wieso finde ich keine Wurzeln? Das frage ich mich immer wieder.“ Die Sozialpädagogin sehnt sich nach einem Ort, an dem sie sich heimisch fühlen kann – und hat doch das Gefühl, nie anzukommen. Jeder Wohnungswechsel, jeder Umzug lösen bei der heute 40-Jährigen wieder Unruhe und Angst aus. Manchmal befürchtet Sabine sogar, dass sie diese Wurzellosigkeit an ihre kleine Tochter weitergeben wird: „Ich habe irgendwie das dumpfe Gefühl, meiner Tochter keine Heimat anbieten zu können, solange ich selbst nicht angekommen bin.“
Erst seit kurzem ahnt Sabine, worin ihre Ängste begründet sein könnten. Die Beschäftigung mit ihrer Familiengeschichte im Rahmen einer Weiterbildung zur Systemischen Beraterin zeigte der Sozialpädagogin, dass die Flucht- und Vertreibungserfahrungen, die ihre Eltern als Kinder erlebten, auch auf sie prägenden Einfluss hatten. „In meinem Genogramm stieß ich immer wieder auf das Familienthema Heimatlosigkeit“, erklärt sie. „Und seitdem fügen sich mehr und mehr Puzzleteile zusammen.“
Sowohl Sabines Vater als auch ihre Mutter sind Flüchtlingskinder: Der Vater ist 1932 in Ostpreußen geboren, die Mutter 1934 in Schlesien. Trennungen und Verluste durchziehen die Kindheit und Jugend von Sabines Mutter wie ein roter Faden. Sie wuchs mit ihrer Mutter und drei älteren Geschwistern in einem kleinen Dorf in Schlesien auf. Der Großvater war bereits zu Beginn des Krieges an einer Lungenentzündung gestorben. Als im Winter 1944 die ersten Flüchtlingstrecks durchs Dorf rollten, entschied die Großmutter, dass die Familie nicht fliehen würde. „Meine Oma sah, dass es den Flüchtlingen sehr elend ging“, erzählt Sabine. „Da sagte sie zu meiner Mutter: ‚Wir sterben lieber hier als aufder Flucht.‘ “ Anfang Januar 1945 erreichte die sowjetische Armee schließlich Schlesien – und hinterließ eine Spur der Verwüstung: Dörfer und Ortschaften wurden zerstört, Flüchtlingstrecks überrollt, es kam zu unzähligen Vergewaltigungen und Erschießungen. Vor allem die nachrückenden sowjetischen Einheiten nahmen Rache an den Deutschen – eine Reaktion auf den Feldzug der Wehrmacht in der Sowjetunion.
Sabines Mutter erlebte das Eintreffen der sowjetischen Armee als traumatisch. Bei den massiven Übergriffen von russischen Soldaten auf deutsche Frauen im Dorf wurde auch Sabines Großmutter mehrfach vergewaltigt. „Meine Mutter hat das als knapp Zehnjährige alles miterlebt“, berichtet Sabine. „Nach den Übergriffen ist meine Oma schwer krank geworden, so schlimm, dass es um Leben und Tod ging. Es muss wirklich furchtbar gewesen sein.“
Sabines Mutter erzählte ihrer Tochter oft von den Erlebnissen aus dieser Zeit: Zum Beispiel von dem Tag, als die russischen Soldaten im Dorf ankamen und alle Frauen sich auf dem Dorfplatz versammeln mussten. Als sie sich den Soldaten gegenübersah, geriet die junge Nachbarin der Familie in Panik, versuchte Reißaus zu nehmen und wurde daraufhin mit einem Kopfschuss niedergestreckt – sie kam neben Sabines Mutter zu Fall. „Wenn meine Mutter das erzählt, stockt ihr immer noch der Atem und sie fängt an zu weinen“, erzählt Sabine. „Dann merkt man, was an unverarbeiteten Traumata in ihr schlummert. Und ich denke immer: Wie kann man danach noch ein geregeltes Leben hinkriegen?“
Als es der Großmutter wieder besser ging, flüchtete die Familie nach Deutschland und wurde in der Nähe von Augsburg
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