Wir Kinder der Kriegskinder
aller Anstrengungen konnte die Familie ihre Flüchtlingsidentität nicht einfach abstreifen.
Auch Sabine fühlt sich nicht frei, an einem neuen Ort Wurzeln zu schlagen. Obwohl sie den starken Drang hat, sich dauerhaft irgendwo niederzulassen: Sesshaft werden, Sicherheiten schaffen und ein geordnetes Leben führen, das sind Themen, mit denen Sabine sich identifiziert, seit sie ein Kind ist.
Schon mit 12 Jahren nahm sie einen Ferienjob im Unternehmen des Vaters an, mit dem erklärten Ziel, nun auf ein eigenes Haus im Grünen sparen zu wollen. Später kamen verschiedene Babysitter-Jobs hinzu, so dass sie mit Anfang 20 bereits über ein kleines Startkapital für ihr Häuschen im Grünen verfügte.
„Man muss vorsorgen, etwas zur Seite legen, für schlechte Zeiten sorgen, seine kleine Welt sichern ... diese Gedanken haben mich noch heute fest im Griff. Das hat bestimmt mit der Geschichte meiner Eltern zu tun“, analysiert Sabine. Sich auf diese Weise mit dem elterlichen Lebensentwurf zu identifizieren, deren Ängste und Sehnsüchte zu übernehmen, schränkt Sabine jedoch auch stark ein: „Eigentlich finde ich es furchtbar“, bedauert sie. „Das steckt inzwischen so in mir drin, dass ich denke, ich werde das gar nicht mehr los. Ich merke, dass ich schon jetzt beginne, diese Haltung auf mein Kind zu übertragen: Dieses ‚Erst die Pflicht, dann die Kür.‘ Nur mache ich das so extrem, dass es für mich kaum noch Kür gibt.“
Es ist wohl auch auf diese eingeimpfte Sparsamkeit zurückzuführen, dass Sabine 14 Jahre lang in ihrer winzigen Studentenwohnung inmitten eines sozialen Brennpunkts in Bochum wohnen blieb – obwohl sie bereits nach vier Jahren ihr Studium abgeschlossen und einen guten Job gefunden hatte. „Ich sagte mir: In dieser billigen Wohnung spare ich so viel Geld, dass ich auf einen Schlag alle meine Bafög-Schulden abzahlen und dannweiter für mein Häuschen im Grünen sparen kann“, erzählt sie. „Und dafür habe ich 14 Jahre in einer Studentenbude gewohnt. Darüber kann ich heute nur den Kopf schütteln.“
Erst nach dem Tod einer Freundin gelang es Sabine, diese Werte in Frage zu stellen: „Da habe ich mir gesagt: Du musst jetzt aufhören, immer nur für die Zukunft zu leben. Von der Geschichte meiner Eltern hatte so viel auf mich abgefärbt.“ Sabine entschloss sich, ihr Leben zu ändern. Sie zog in eine große Wohnung, kaufte sich ein Auto und begann, sich selbst mehr zu gönnen.
Heute lebt Sabine mit ihrer Familie in einem großen alten Haus – zwar nicht im Grünen, aber immerhin doch im Eigenheim. Doch irgendwie hat sie noch immer das Gefühl, nicht ganz angekommen zu sein. Wie wichtig und schmerzbesetzt das Thema Heimat für sie ist, wurde ihr bei der Entscheidung bewusst, zu ihrem Mann zu ziehen.
Einige Jahre lang hatten Sabine und ihr Mann eine Wochenendbeziehung geführt und pendelten regelmäßig zwischen Bochum und Remscheid, wo ihr Mann eine Arztpraxis hat. Als Sabine irgendwann herausfand, dass sie schwanger war, konnte sie sich zunächst kaum freuen: „Mein erster Gedanke war: ‚Hilfe, jetzt muss ich weg.‘ Das hat mich fünf Monate meiner Schwangerschaft beschäftigt“, erzählt sie. „Ich war furchtbar traurig, weil ich solche Angst hatte, in eine andere Stadt zu gehen, auch wenn sie nur fünfzig Kilometer entfernt ist. Nach neunzehn Jahren in Bochum hatte ich wirklich das Gefühl: Hier ist mein Zuhause.“ Erst als ihre Tochter knapp zwei war, traf Sabine die Entscheidung, nach Remscheid zu ziehen. Nicht ganz freiwillig: Ihr Mann war nicht mehr bereit, drei mal die Woche abends nach Bochum zu pendeln.
Nun lebt Sabine seit zwei Jahren in Remscheid. Sie fühlt sich zwar noch immer nicht ganz zu Hause, doch inzwischen schwinden auch die Gefühle für Bochum: Dass auch diese Stadt ihrlangsam fremd wird, musste sie feststellen, als sie dort kürzlich eine Feier besuchte. „Das war ein ganz schlimmes Gefühl für mich“, erzählt sie, „weil ich den Eindruck hatte: Wenn das jetzt weg ist, was bleibt mir dann noch?“ Sich so wurzellos zu fühlen macht ihr Angst: „Heimat hat bei mir ganz klar etwas mit Geographie zu tun. Ich trage sie nicht in mir“, reflektiert sie. „Ich hätte sie aber gern in mir, weil ich denke, dass Menschen, die ihre Heimat in sich tragen, viel freier sind. Das ist bei mir leider nicht der Fall.“
3. Ein Leben in Sicherheit und frei von Mangel
Von dem Wunsch nach persönlicher Entwicklung und Selbstverwirklichung
In den Jahren
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